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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913
Autoren: Luzius Keller
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sprechen. Er weist auf alles, was man dem Buch vorwerfen könnte: Es passe in keine Gattung, es sei kein Roman, denn es hätte keine Intrige (»absence d’une intrigue«) und eine beliebige Komposition (»fantaisie de la composition«); es sei keine Autobiographie, denn der Autor von Memoiren müsse seine Erinnerungen zurechtstutzen und zurechtputzen, er müsse am Ende das zum Bau benötigte Gerüst wieder verschwinden lassen. »Monsieur Marcel Proust dagegen lässt uns miterleben, wie eine Autobiographie entsteht; er zeigt, wie die Erinnerung ganz unwillkürlich bald diesen, bald jenen Baustein heranführt; wie ein beharrlicher Pfadfinder zieht er uns mit sich in das Dickicht der Vergangenheit […].« ( XII , 369 ) Das ist schön gesagt und zeugt von Offenheit für Neues und Ungewohntes. Doch geblendet von den Reizwörtern »absence d’une intrigue« und »fantaisie de la composition« hat Proust möglicherweise das Folgende, nämlich die eben zitierte Passage, gar nicht zur Kenntnis genommen. Noch am selben Tag schreibt er jenen schon zitierten Brief an André Beaunier, in dem er darlegt, wie die Figur Vinteuils zuerst als etwas heruntergekommener alter Mann auftritt, dann aber als genialer Komponist erscheint. Und er fügt hinzu: »Und das alles soll nicht Komposition sein.« ( XII , 367 ) Gleichzeitig lässt er ein weiteres Mal durchblicken, wie gerne er es sähe, wenn auch Beaunier eine Rezension schreiben würde. Dieser aber windet sich, gibt vor, er wolle die beiden nächsten, für 1914 angekündigten Bände abwarten und dann den ganzen Roman besprechen. Als Argument für eine sofortige Besprechung von
Du côté de chez Swann
wendet Proust ein – vielleicht ohne zu ahnen, wie wahr er spricht –, es könne noch lange dauern, bis alles vollendet sei: »Wenn das wirklich Ihre freundliche Absicht ist, warten Sie nicht ab, bis die anderen Bände erschienen sind, denn 1914 steht da, weil der Verleger es so wollte, um die Fortsetzung anzubahnen. Doch auch wenn meine Gesundheit mir erlaubt, alles fertigzustellen, so wird es nicht vor drei bis vier Jahren so weit sein. Und in diesem Augenblick brechen Widerwärtigkeiten und Kümmernisse über mich herein und hindern mich nicht nur daran zu arbeiten, sondern auch nur einen Schatten von Freude an diesem Buch zu haben.« ( XII , 367 ) Es soll noch schlimmer kommen.
    Nur einen Tag später, am 9 . Dezember, erscheint jene Kritik, die Proust wohl mit Grauen vorausahnte, wenn er die Komposition seines Romans betonte und wenn er sich verbat, mit Adjektiven wie
delikat
oder
feinsinnig
charakterisiert zu werden. Genau das aber macht Paul Souday, der damals tonangebende Literaturkritiker, der – nach langen schulmeisterlichen Auslassungen über sprachliche und andere Fehlleistungen des Autors – seine Rezension in
Le Temps
mit dem folgenden Satz beschließt: »Es will uns scheinen, der voluminöse Band von Monsieur Marcel Proust sei nicht komponiert, er sei ebenso maßlos wie chaotisch, doch er berge kostbare Elemente, mit denen der Autor ein exquisites kleines Buch hätte schreiben können.« ( XII , 382 ) Wer so spricht, wirft dem Autor von
Du côté de chez Swann
vor, nicht mehr der Autor von
Les Plaisirs et les jours
zu sein. Grasset ist außer sich, Proust ist tief betroffen. Er fragt Jean-Louis Vaudoyer um Rat, wie er zu reagieren hat: Soll er eine Replik an
Le Temps
senden (was von Gesetzes wegen sein Recht ist)? Soll er darin den Brief zitieren, mit dem Francis Jammes sich für
Du côté de chez Swann
bedankt, den Autor neben Shakespeare und Balzac stellt und ihm eine »phrase à la Tacite« attestiert? Dieses Lob würde Proust seinem Kritiker gerne unter die Nase reiben: »Es stimmt, dass ich viele solche Briefe erhalten habe, doch meine Bewunderung für Jammes, den ich über alle stelle, wie ich Ihnen gewiss oft gesagt habe, gibt diesem Brief für mich besonderes Gewicht; da außerdem Souday, wie er behauptet, Jammes gleichermaßen bewundert, wäre es eine amüsante Antwort, ihm gegenüber meine ›phrase à la Tacite‹ zu erwähnen.« ( XII , 373 ) Doch Proust verzichtet auf eine öffentliche Antwort und schreibt am 11 . Dezember Souday einen privaten Brief: »Ich will nicht ein Vorgehen wählen, das Ihnen unfreundlich erscheinen könnte, und Ihnen, wie ich das Recht hätte, in
Le Temps
antworten.« Es folgt ein Abschnitt über die inkriminierten Französischfehler, die doch ganz offensichtlich einfache Druckfehler sind, wie Proust sie auch in Soudays
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