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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913
Autoren: Luzius Keller
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Dilemma: Er liebt Agostinelli, möchte alles für ihn tun, kann ihn aber aus Rücksicht auf Odilon Albaret als Chauffeur nicht beschäftigen. So kommt er auf die Idee, den jungen Mann zu seinem Sekretär zu machen und ihn zu beauftragen, seine Manuskripte abzutippen. Und er kommt auch auf die Idee, Agostinelli und Anna in seiner Wohnung im Boulevard Haussmann 102 einzuquartieren. Beide Ideen können nicht als glückliche bezeichnet werden. Proust hat zwar mehrmals die große Intelligenz Agostinellis herausgestrichen, doch um mit Proust’schen Manuskripten zurechtzukommen, braucht es nicht unbedingt eine große, sondern eine sehr spezielle Intelligenz. Und auch dass Prousts Dienstboten, das Ehepaar Céline und Nicolas Cottin, die neuen Bewohner mit offenen Armen empfangen würden, war nicht zu erwarten. Tatsächlich gibt es bald Spannungen und Konflikte, doch darüber äußert sich Proust nur in Anspielungen. In der zweiten Junihälfte schreibt er an Louis de Robert, der seinerseits seit einiger Zeit von Liebeskummer geplagt wird: »Wie vieles möchte ich Ihnen doch noch sagen; ich bin so unglücklich, dass ich Ihre Freundlichkeit nötig hätte; es geht mir
sehr schlecht,
und ich habe großen Kummer.« ( XII , 212 ) Und es kommt noch schlimmer. Anfang September schreibt Proust: »Ich habe Ihnen, glaube ich, gesagt, dass sich meine Gesundheit seit einigen Monaten völlig verändert hat. Und gleichzeitig hat mich ein unendlicher, ständig erneuerter Kummer ergriffen, während ich doch nicht mehr in der Lage war, ihn zu ertragen.« ( XII , 271 ) Was ist in der Zwischenzeit geschehen? In Begleitung von Agostinelli, Anna und Nicolas Cottin ist Proust am 26 . Juli wie jedes Jahr nach Cabourg gefahren. Doch schon wenige Tage später, am 4 . August, entschließt er sich ganz plötzlich, während eines Ausflugs mit Agostinelli nach Houlgate, nicht ins Hotel nach Cabourg zurückzukehren, sondern den Zug zu nehmen und mit seinem Begleiter nach Paris zu fahren. Kurz nach dem 11 . August berichtet er von seiner überstürzten Abreise in einem Brief an Georges de Lauris. Nach der üblichen Eingangsfloskel über seinen schlechten Gesundheitszustand fügt er hinzu: »Mein physischer Zustand macht es mir schwer, gewisse Seelenschmerzen zu ertragen.« Dann folgt der Bericht: »Als ich nach Cabourg fuhr, hatte ich eine Person zurückgelassen, die ich in Paris selten sehe, von der ich aber doch weiß, dass sie da ist, und in Cabourg fühlte ich mich fern, beklommen. Ich war entschlossen, zurückzukehren und wieder in Paris zu landen. Doch ich schob die Abreise von einem Tag zum anderen hinaus. Letzten Montag hatte ich zu Nicolas gesagt, dass wir ganz sicher erst in ein paar Tagen abreisen würden, doch auf einem Ausflug mit meinem Sekretär nach Houlgate, bemerkte dieser, wie niedergeschlagen ich war, riet mir, mit meinem Zögern kurzen Prozess zu machen, und, ohne ins Hotel zurückzukehren, in Trouville den Zug zu nehmen. Ich sandte eine Nachricht an Nicolas, er solle die Koffer packen, und er eine an seine Frau, sie solle mit Nicolas abreisen, sobald sie könnten, […] und ich bin nach Paris zurückgekehrt, ohne Gepäck, ohne Nachthemd, um mich schlafen zu legen, ohne meine Hotelrechnung bezahlt zu haben, ohne im Hotel gesagt zu haben, dass ich abreise.« ( XII , 250 – 251 ) Dass die in Paris zurückgelassene Person ein Täuschungsmanöver ist, das es Proust ermöglicht, ganz ungezwungen von seinem Sekretär zu sprechen, geht auch aus Briefen an den Vicomte d’Alton und an Albert Nahmias hervor, in denen der wahre Grund für die überstürzte Abreise deutlicher durchschimmert, Briefe, die auch offenlegen, in welchem Schlamassel Proust steckt, ja, dass er sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs befindet und Gefahr läuft, den Kopf zu verlieren. Bei dem Vicomte d’Alton entschuldigt er sich, ohne Verabschiedung abgereist zu sein, berichtet von dem Ausflug nach Houlgate und dem plötzlichen Entschluss, dann folgt dieser Abschnitt: »Apropos Agostinelli habe ich Ihnen, so glaube ich, gesagt, es gäbe eine delikate Situation in Bezug auf eine Person, die wir beide kennen. Ich konnte Sie nicht mehr alleine sehen, und es ist übrigens auch gut, dass ich Ihnen gewisse Ihnen zweifellos unbekannte Dinge über eine gemeinsame Bekanntschaft nicht erzählen musste. Doch da Sie jedenfalls nicht wissen, von wem ich sprechen wollte, würde ich es vorziehen, dass Sie, um jegliche Peinlichkeit zu vermeiden, ganz allgemein zu niemandem sagen
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