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Professor Bingos Schnupfpulver

Professor Bingos Schnupfpulver

Titel: Professor Bingos Schnupfpulver
Autoren: Raymond Chandler
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Hand in die Höhe, mit der Handfläche nach außen. »Silencium, bitte. Ich fahre mit meiner Analyse fort. Die Steuern sind hoch, und das Haus gehört Ihnen. Wenn Sie könnten, wären Sie weggezogen. Warum haben Sie es also nicht getan? Weil Sie das Anwesen nicht verkaufen können. Das Haus ist groß. Folglich haben Sie Mieter.«
    »Einen Mieter«, sagte Joe Pettigrew. »Nur einen.« Er seufzte.
    »Sie dürften etwa achtundvierzig Jahre alt sein«, vermutete der Professor.
    »Ein paar Jahre mehr oder weniger«, sagte Joe Pettigrew.
    »Sie sind rasiert und ordentlich angezogen. Dennoch ist Ihr Ausdruck unfroh. Ich stelle daher das Vorhandensein einer jungen Frau fest. Verwöhnt, anspruchsvoll. Ich postuliere weiter –.« Unvermittelt brach er ab und begann den Deckel von der Dose zu ziehen, die kein Enthaarungspuder enthielt. »Ich unterlasse es zu postulieren«, sagte er ruhig. »Das«, er hielt die geöffnete Dose in die Höhe, und Joe Pettigrew konnte sehen, daß sie etwa zur Hälfte ein weißes Pulver enthielt, »ist kein Schnupfpulver aus Kopenhagen.«
    »Ich bin ein geduldiger Mensch«, sagte Joe Pettigrew. »Aber hören Sie auf mir zu sagen, was es nicht ist, sondern was es ist.«
    »Es ist ein Schnupfpulver«, sagte der Professor kühl. »Professor Bingos Schnupfpulver. Mein Schnupfpulver.«
    »Geschnupft habe ich auch noch nie«, sagte Joe Pettigrew. »Aber ich will Ihnen etwas sagen. Am Ende der Straße ist eine Wohnanlage. Das Lexington Towers. Wenn die Leute, die dort wohnen, nicht gerade arbeiten, was sie meistens nicht tun, und wenn sie sich nicht mit Dreiundvierzigprozentigem vollaufen lassen, was sie die meiste Zeit tun, dann wäre eine Prise von dem, was Sie da haben, vielleicht genau das Richtige für sie. Vorausgesetzt, Sie bekommen Geld von ihnen. Darauf müssen Sie allerdings achten.«
    »Professor Bingos Schnupfpulver«, sagte der Professor mit eisiger Würde, »ist kein Kokain.« Er schlug sich den Umhang um den Leib und tippte an die Krempe seines Zylinders. Als er sich abwandte, hielt er die kleine Dose noch in der linken Hand.
    »Kokain, mein Freund?« sagte er. »Bah! Verglichen mit Bingos Schnupfpulver ist Kokain ein Kinderpuder.«
    Joe Pettigrew sah ihn den betonierten Gartenweg hinuntergehen und auf den Gehsteig einbiegen.
    Alte Straßen sind von alten Bäumen gesäumt. An der Lexington Avenue wuchsen Kampferbäume. Sie trugen das frische Laub des Jahres, und die Blätter hatten noch hier und da ihren rosaroten Schimmer. Der Professor entfernte sich unter den Bäumen.
    Aus dem Haus erklang immer noch das Bum-Bum. Inzwischen würden sie bei ihrem dritten oder vierten Glas angelangt sein. Sie würden die Melodie summen, Wange an Wange. Nach einiger Zeit würden sie sich auf den Möbeln wälzen. Sich balgen. Und wenn schon. Was machte es aus? Er fragte sich, wie Gladys sein würde, wenn sie zweiundfünfzig Jahre alt wäre. So wie sie es jetzt trieb, würde sie dann nicht so aussehen, als sänge sie im Kirchenchor.
    Er dachte nicht mehr daran und sah Professor Bingo nach, der unter einem Baum stehengeblieben war und sich umdrehte und zurückschaute. Er griff mit der Hand nach der Krempe seines abgewetzten Zylinders, hob den Hut vom Kopf und machte eine Verbeugung. Joe Pettigrew winkte höflich. Der Professor setzte den Hut wieder auf, und ganz langsam, so daß Joe Pettigrew genau sehen konnte, was er tat, nahm er eine Prise von dem Pulver aus der noch immer offenen runden Dose und hielt sie an seine Nasenlöcher. Joe Pettigrew glaubte fast zu hören, wie er das Pulver mit einem langen Atemholen hinaufzog, wie es Schnupfer zu tun pflegen, damit das Pulver auch die Schleimhäute erreicht.
    In Wirklichkeit hörte er das natürlich nicht, er bildete es sich nur ein. Aber sehen konnte er es sehr deutlich. Den Hut, den Umhang, die langen dürren Beine, das weiße Gesicht, die tiefliegenden schwarzen Augen, den erhobenen Arm, die runde Dose in der linken Hand. Keine zwanzig Meter war die Gestalt von ihm entfernt. Genau vor dem vierten Baum auf dem Gehsteig.
    Aber das konnte nicht stimmen, denn wenn er vor dem Baum gestanden hätte, wäre Joe Pettigrew nicht in der Lage gewesen, den Stamm in seiner ganzen Länge zu sehen, das Gras, die Bordsteinkante, die Straße. Einiges davon hätte hinter der hageren phantastischen Gestalt des Professors Bingo verborgen liegen müssen. Nur daß es nicht so war. Denn Professor Augustus Bingo war nicht mehr vorhanden. Es war niemand mehr da. Gar niemand.
    Joe
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