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Professor Bingos Schnupfpulver

Professor Bingos Schnupfpulver

Titel: Professor Bingos Schnupfpulver
Autoren: Raymond Chandler
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Wer weiß, was alles passiert wäre.
    Er hätte es riskieren können, in einer Menschengruppe einen Bus oder die Straßenbahn zu besteigen. Unmöglich wäre das nicht gewesen. Keiner würde sich umdrehen und nachsehen, wer von hinten drängelte, aber es bestand immer die Gefahr, daß irgendein kräftiger Zeitgenosse hinlangte, wo es scheinbar nichts zu packen gab, und einen Arm erwischte und stur genug war, diesen festzuhalten, auch wenn er nicht sehen konnte, was er erwischt hatte. Nein. Laufen war besser. Das würde auch Joseph befürwortet haben.
    »Nicht wahr, Joseph?« fragte er und starrte in die staubige Glasscheibe der Haustür.
    Joseph hatte dazu keine Meinung. Er konnte ihn zwar sehen, aber nur unscharf und verschwommen. Er war irgendwie vage. Ihm fehlte die ausgeprägte Persönlichkeit, die man von Joseph erwartete.
    »Na schön, Joseph. Ein andermal.« Joe Pettigrew blickte auf die Karte in seiner Hand. Etwa acht Querstraßen war er noch von dem Gebäude entfernt, wo in Zimmer 311 Professor Augustus Bingo ein Büro unterhielt. Auf der Karte stand auch eine Telefonnummer. Joe Pettigrew überlegte, ob es klüger sei, sich telefonisch anzumelden und einen Termin zu vereinbaren.
    Ja, das wäre ratsam. In dem Gebäude würde es einen altmodischen handbedienten Aufzug mit Liftführer geben, und sobald er sich in diesem Aufzug befand, war er in zu starkem Maße den Unberechenbarkeiten des Zufalls ausgeliefert. Viele dieser alten Häuser – und er wußte, daß Professor Bingo sein Büro in einem Haus haben würde, dessen Zustand dem seines schäbigen Zylinders entsprach – hatte keine Fluchttreppe, mit deren Hilfe man den Lift hätte umgehen können. Die eisernen Feuerleitern an der Außenwand waren von unten unzugänglich, und der Lastenaufzug konnte von der Eingangshalle nicht betreten werden. Also war es besser, einen Termin zu vereinbaren.
    Auch die Frage des Honorars stand zur Debatte. Joe Pettigrew hatte siebenunddreißig Dollar in der Tasche, allerdings keinen Grund zu der Annahme, daß siebenunddreißig Dollar ausreichen würden, Professor Bingos Herz höher schlagen zu lassen. Professor Bingo wählte seine Klientel zweifelsohne mit Bedacht aus und könnte imstande sein, einen ansehnlichen Teil der verfügbaren flüssigen Mittel zu fordern. Daran war jedoch so ohne weiteres nicht heranzukommen. Es schien kaum möglich, in der Bank einen Scheck einzulösen, wenn es niemand gab, der den Scheck sehen konnte. Und selbst wenn der Kassierer den Scheck sehen könnte, was Joe Pettigrew für nicht ausgeschlossen hielt, wenn er den Scheck auf den Schalter legte und die Hand wegnähme – denn der Scheck wäre schließlich da und sichtbar –, würde er kaum auf den Gedanken kommen, eine Hand voll Geldscheine in den leeren Raum hinauszustrecken. Die Bank kam also nicht in Frage.
    Er könnte natürlich warten, bis sich jemand anders einen Scheck auszahlen ließ, und nach dem Geld greifen. Für so eine Handlung war eine Bank jedoch der am allerwenigsten geeignete Ort. Jemand, dem man Geld vor der Nase wegnahm, würde wahrscheinlich ein großes Theater mit viel Lärm machen, und Joe Pettigrew wußte, daß eine Bank auf so einen Fall damit reagierte, daß die Tür geschlossen und der Alarm ausgelöst wurde.
    Besser wäre es schon, die Person mit dem Geld aus der Bank gehen zu lassen. Was allerdings auch Nachteile hatte. Handelte es sich bei der betreffenden Person um einen Mann, würde er das Geld so einstecken, daß ein unerfahrener Taschendieb Schwierigkeiten haben würde, an es heranzukommen, auch dann, wenn er über Vorteile verfügte, die dem geschicktesten Taschendieb nicht vergönnt waren. Also würde es eine Frau sein müssen. Dagegen sprach wiederum, daß Frauen sehr selten Schecks über größere Summen einlösten, und Joe Pettigrew widerstrebte es, einer Frau die Handtasche entreißen zu müssen. Selbst wenn sie den Verlust des Geldes verschmerzen konnte, den der Handtasche nie. Ohne sie wäre sie hilflos.
    »Ich bin nicht dafür geschaffen«, sagte Joe Pettigrew mehr oder weniger laut, während er im Hauseingang stand, »aus der gegenwärtigen Situation echten Nutzen zu ziehen.«
    Dies war die ungeschminkte Wahrheit und der Grund seiner Probleme. Obwohl er Porter Green ein sauberes Loch in den Pelz gebrannt hatte, war Joe Pettigrew im Grunde seines Herzens ein anständiger Mensch. Er hatte sich anfänglich zu bestimmten Handlungen hinreißen lassen, sah jedoch inzwischen ein, daß Unsichtbarsein auch
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