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Pringle vermisst eine Leiche

Pringle vermisst eine Leiche

Titel: Pringle vermisst eine Leiche
Autoren: Nancy Livingston
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anderen
Tag wiederkommen und dann alles in Ordnung bringen.
    Er betrat den offenen Vorraum
und drückte die schwere eiserne Klinke der Kirchentür herunter. Die Tür bewegte
sich nicht. Auch als er sich mit der Schulter dagegenstemmte, rührte sie sich
nicht. Offenbar war abgeschlossen. Enttäuscht ließ er sich in dem kleinen
überdachten Eingangsraum auf einer Bank gleich neben dem Kirchenportal nieder.
    Der Wirt hatte ihm versichert,
daß die Kirche den ganzen Nachmittag über geöffnet sei. «Heute geht es mit den
Vorbereitungen so richtig los. Der Frauenverein will die Tische hinbringen und
die Vasen aufstellen.»
    Mr. Pringle nahm an, daß die
Frauen bald eintreffen würden. Trotz des Rauschens von der Autobahn her hörte
man das Summen der Bienen. Ermattet schloß er die Augen.
    Er mußte eingenickt sein.
Plötzlich fuhr er auf — und zuckte im gleichen Moment vor Schmerz zusammen.
Seine gepeinigten Muskeln ließen solche heftigen Bewegungen nicht zu. Er holte
tief Luft und saß ganz still. Es war ein leises Schaben und Kratzen zu
vernehmen. Mr. Pringle lugte um den Eckpfeiler des Vordaches und sah, daß das
Aussätzigenfenster, das tief unten, kaum einen Meter über dem Boden in die
Kirchenmauer eingelassen war, sich bewegte. Seit dem 16. Jahrhundert war es
geschlossen gewesen, doch jetzt versuchte jemand, es zu öffnen.
    Hinter dem dicken
ungeschliffenen Glas erkannte er den schattenhaften Umriß einer Hand. In diesem
Augenblick hielt neben dem Gefallenen-Ehrenmal ein Volvo, aus dem etliche
gutgelaunte Frauen heraussprangen, die sofort begannen, das Auto zu entladen,
und geschäftig hin und her eilten. Das Aussätzigenfenster wurde mit einem Ruck
zugezogen, und die Hand verschwand.
    Eine der Frauen löste sich aus
der Gruppe. Mr. Pringle stand auf. Mit energischen Schritten kam sie direkt auf
ihn zu. Ihre Brillengläser blitzten in der Sonne. Das war jemand, der gewohnt
war, Entscheidungen zu treffen und Anordnungen zu geben. Vermutlich die
tragende Säule des Frauenvereins von Wuffinge Parva, dachte Mr. Pringle. «Noch
ein Helfer, sehr schön!» rief sie ihm schon von weitem entgegen, ohne sich über
seine Anwesenheit auch nur im geringsten zu wundern. «Wir brauchen heute jede Hand!
Zuerst müssen die Böcke und die sechs Tischplatten hineingeschafft werden.» Mr.
Pringle wollte sich gerade auf den Weg zum Auto machen, als er hörte, wie
drinnen ein Riegel zurückgeschoben wurde und die Kirchentür sich knarrend
öffnete.
    Im Eingang stand der Pfarrer.
Wenigstens nahm Mr. Pringle das an. Er war ein hochgewachsener Mann, der seine
Soutane gegen einen dicken Segelpullover und eine abgetragene Hose eingetauscht
hatte. Im Dämmerlicht des Kircheneingangs wirkte er jugendlich, aber das mußte
daran liegen, daß er blond war, denn als er in die Tageshelle hinaustrat, sah
Mr. Pringle, daß er auf die Fünfzig zuging.
    «Wir haben Sie doch hoffentlich
nicht warten lassen, Herr Pfarrer», rief die Frau mit dem Organisationstalent,
und es war deutlich zu hören, daß sie eine positive Antwort als Beleidigung
aufgefaßt hätte. Zum Glück schüttelte er den Kopf.
    «Aber keineswegs, Mrs. Leveret.
Allerdings stecke ich im Moment ein bißchen in der Klemme. Ich habe nämlich
leichtsinnigerweise eine der Holzplatten, die zum Schutz der Wandgemälde
angebracht worden sind, heruntergenommen. Tja, und jetzt... Eigentlich hatte
ich mir fest vorgenommen, wie alle anderen den Freitagnachmittag abzuwarten,
aber dann hat mich auf einmal die Neugier gepackt.» Er lächelte zerknirscht.
«Die Strafe folgte auf dem Fuße. Ich kriege das verdammte Ding einfach nicht
wieder hoch. Es ist zu schwer.»
    «Soll das heißen, Sie haben die
Wandbilder überhaupt noch nicht gesehen?» fragte Mrs. Leveret überrascht. «Wir
alle nahmen an, daß Sie die Arbeit der Restauratoren die ganze Zeit über
verfolgt haben.»
    Der Pfarrer schüttelte den
Kopf. «Nein, bis heute morgen bin ich da sehr strikt gewesen. Und das war auch
gut so. Statt die Bilder stückchenweise kennenzulernen, habe ich jetzt gleich
das ganze Fresko gesehen — eine wirkliche Offenbarung. Aber jetzt muß ich
schleunigst dafür sorgen, daß die Abdeckung wieder davorkommt.»
    «Vielleicht kann ich Ihnen
helfen?»
    Der Pfarrer musterte Mr.
Pringle zweifelnd. Er schien hin und her gerissen. «Sie leben aber doch nicht
in Wuffinge, oder?»
    «Jetzt nicht mehr, aber früher
einmal.»
    «Ich muß mich auf Ihre
Verschwiegenheit absolut verlassen können. Die Vorschriften des
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