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Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland

Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland

Titel: Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Autoren: Tanja Weber
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sich gedreht, jede erdenkliche Position ausprobiert. Gebuckelt, mit dem Kopf zwischen den Knien. In der Hocke hatte er gekauert. Aufstehen war zwecklos, sein rechtes Handgelenk war unten an den Heizkörper gekettet, er konnte sich nicht aufrichten. Nun versuchte er also zu sitzen. Nach wie vielen Stunden Gefangenschaft? Er hatte keinerlei Orientierung, welche Zeit vergangen war, seit er sein Büro verlassen hatte. Es war Freitagnachmittag gewesen, das wusste er. Gegen fünf. Kaum jemand war noch in dem Tower unterwegs gewesen, die unzähligen Büros, Gänge, Flure waren wie leergefegt, die Börse war bereits geschlossen. Mit einem guten Schnitt hätte er ins Wochenende gehen können. Aber für ihn hatte es kein Wochenende gegeben. Ihm war das Zeitgefühl schon vor seiner Entführung abhandengekommen. Vielleicht war es deshalb so schwer für ihn, jetzt die Zeit zu rekonstruieren. Er lebte nicht nach der Uhr. Und nach welcher Zeit hätte er sich richten sollen? MEZ? WEZ? OEZ? UTC wohl noch am ehesten. Er war ständig wach und driftete zwischen den Zeitzonen der jeweils geöffneten Märkte. Der Geldmarkt arbeitete immer, und er hatte es sich angewöhnt, im Büro Minutenschlaf zu halten. Die Stunden, dieer wöchentlich in seinem Appartement verbrachte, in seinem Bett, konnte er an einer Hand abzählen. Das Bett besaß er nur, weil er die Dachterrassenwohnung möbliert gekauft hatte. Es hatte ihm gefallen, einen guten Deal mit der Maklerin zu machen. Das war alles, was zählte. Was gezählt hatte, in seinem bisherigen Leben. Nun gab es ein neues Leben, und er war darin bloß eine Schachfigur. Er hatte es nicht gewählt und hatte nichts darin zu bestimmen. Anfangs hatte er gegen den Heizkörper geschlagen, in der Hoffnung, dass der Schall durch die Leitungen wandern würde und so jemand auf ihn aufmerksam werden könnte. Bis er gemerkt hatte, dass der Heizkörper abgeklemmt war, an kein Rohrleitungssystem angeschlossen. Er drehte sich auf die andere Seite des Heizkörpers. Hier konnte er den Rücken an die Wand pressen, aber diese Position war auf Dauer ebenfalls unangenehm, denn er musste, wenn er so saß, den rechten Arm quer über seinen Vorderkörper führen, die rechte Schulter verdreht, wenn er sich nicht schmerzhaft ins Handgelenk schneiden wollte. Die Handschellen, mit denen sie ihn angekettet hatten, hinterließen bereits einen rotgescheuerten Rand auf seinem Handgelenk, bald würde der rote Ring wund werden. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Mental war er unschlagbar. Diese Situation würde er überwinden. Er musste wieder die Kontrolle über sein Leben zurückgewinnen. Seine Gegner waren momentan im Vorteil, aber sie waren schwach. Er atmete tief durch die Nase ein, die Luft blähte seinen Brustkorb, und er lächelte. Sie hatten Angst. Das machte sie klein. Er hatte keine Angst. Er würde hier rauskommen. Und dann würde er sie fertigmachen.
    *
    Um elf gönnte sich Stifter eine kleine Pause. Er verließ seine Route – er hatte dann gerade den Brentanoweg abgearbeitet –, radelte zu der kleinen Bäckerei am Novalisplatz, bestellte sich eine Butterbreze und einen Kaffee und setzte sich vor die Bäckerei in die Sonne. Die Breze war, wie sie sein musste, außen dunkel und knusprig, mit hageligem Salz, innen fluffig weich. Nicht so wie das labberige Gebäck, das einem auf den Berliner S-Bahnhöfen angeboten wurde. Da hatte er nie eine Breze gegessen, das waren eben auch Brezeln und keine Brez’n. Er hatte in seinem achtundvierzigjährigen Leben keinen großen Wert auf Essen gelegt, war kein Freund von Fast Food, und auch der Trend zur Edelkulinarik war an ihm vollkommen vorbeigegangen. Er konnte kein Interesse für Trüffelöle, alten Essig und Biohonig aus den Anden aufbringen. Aber seit er in Bayern war, hatte er Appetit bekommen, lebte weit weniger asketisch als all die Jahre nach seinem Auszug von zu Hause. Der Geruch, der aus der Bäckerei strömte, das frische Holzofenbrot mit der Butter, die er beim Milchbauern nebenan kaufte, die Mittagsgerichte, die der junge Mann beim Metzger an der Essenstheke zubereitete: Leberkäs, Krautsalat, Maultaschen – all das hatte seinen Geschmackssinn reaktiviert, ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Stifter hatte in Bayern angefangen zu essen. Und jetzt, im Sommer, hatte er, der überzeugte Weintrinker, auch noch begonnen, das kühle Helle schätzen zu lernen.
    Stifter spülte den letzten Bissen Breze mit dem Kaffee hinunter und brachte den
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