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Portugiesische Eröffnung

Portugiesische Eröffnung

Titel: Portugiesische Eröffnung
Autoren: Jenny Siler
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alle gründlich hereingelegt.
    Ich nahm den Pass und klappte ihn auf. Unter dem rissigen Plastik schaute mir mein eigenes Gesicht entgegen. Ich hatte recht gehabt; er war nicht perfekt, und die Laminierung hatte auch nicht gehalten. Im Grunde war er völlig nutzlos, aber ich brachte es nicht über mich, ihn zurückzulassen.
    Ich steckte ihn ein, trank den Kaffee aus und ging hinaus auf den Bahnsteig. Ganz am Ende der verlassenen Bahnhofshalle grinste mir die riesige Anzeigetafel höhnisch entgegen. Die Ziele wurden in digitaler Leuchtschrift angezeigt. Ganz oben stand PARIS – ST.-LAZARE, Graças Zug. Darunter der nächste, der Nachtzug nach Barcelona. Der Küstenzug, der durch Eine und Argèles-sur-Mer fuhr.
    Und durch Collioure, dachte ich, bevor ich einen Schritt zum Ticketschalter machte. Haben Sie wirklich geglaubt, Ed würde Sie diesmal nicht verraten?, hatte Valsamis gefragt. Doch die eigentliche Frage war, weshalb ich ihm überhaupt die Möglichkeit gegeben hatte.
    Ich beschloss, lieber auf den nächsten Zug zu warten.

Neunundzwanzig
    Zuerst ist es nur ein Gefühl, sonst nichts. Ich spüre einfach, dass sich etwas verändert hat. Zwei Wochen später weiß ich es genau. Rahim ist weggegangen, und ich stehe barfuß auf den kalten Badezimmerfliesen. Aus dem silbrigen Spiegel über dem Waschbecken blickt mir mein eigenes Gesicht entgegen, die unerbittlich helle Deckenlampe betont meine körperlichen Unvollkommenheiten. Auf dem weißen Oval des Waschbeckenrandes balanciert ein Plastikstäbchen.
    Draußen in der Rua da Moeda quält sich die Bica-Seilbahn stöhnend den Hügel hinauf. Neunundneunzig, achtundneunzig … Ich zähle langsam von hundert rückwärts und horche, wie das Geräusch der Bahn in der Ferne verklingt, als knirschten Zähne auf den abgenutzten Schienen. Noch nie im Leben habe ich mich so unsicher gefühlt, als könnte mir alles entgleiten, als blieben nur Schmerz und Zerstörung.
    Ich denke an meine Mutter, wie sie in der Wohnung meiner Großeltern in Achrafiye Kleidung einpackt, die ihr bald nicht mehr passen wird. Zum ersten Mal kann ich mir in etwa vorstellen, wie sie sich gefühlt haben muss. Was mich verblüfft, ist ihre Überzeugung, die Gewissheit, dass sie mich trotz der nagenden Angst behalten wird. So hat sie mir die Geschichte jedenfalls immer erzählt. Keine Zweifel, nicht einmal der flüchtige, aus der Furcht geborene Wunsch, mich aufzugeben.
    Achtzehn, zähle ich, siebzehn … auf einmal schäme ich mich, schäme mich für mein eigenes Zögern und meine Panik. Es bestätigt sich nur, was ich schon immer gewusst habe: Ich werde nie so stark sein wie sie. Im winzigen Fenster des Plastikstäbchens ist eine dünne blaue Linie erschienen. Keine Frage, kein Zweifel mehr, nur die Entscheidung, die ich treffen muss.
    Die Wohnungstür geht auf, viel früher als erwartet, und ich höre zwei Stimmen im Wohnzimmer, den kehligen Widerhall des Arabischen. Rahim und einer seiner marokkanischen Freunde. Ich hole tief Luft und reiße mich zusammen, drücke die Handflächen gegen das kühle Porzellan. Im Wohnzimmer wird das Radio eingeschaltet. Europe 1 aus Frankreich. Ich muss es ihm sagen. Vermutlich ahnt er es ohnehin.
    Ich stecke das Plastikstäbchen in die Tasche und trete in den Flur. Rahim kocht in der Küche Tee.
    »Ich gehe nochmal weg«, sage ich, und er nickt schweigend, während er getrocknete Minze in die verzierte Teekanne löffelt, die ihm sein Bruder Driss vor einigen Wochen geschenkt hat.
    Rahims Freund Mustapha ruft etwas aus dem Wohnzimmer, und Rahim antwortet mit zorniger Stimme. Das ist ihr neues abendliches Ritual. Pfefferminztee und Nachrichten, später dann eine billige Flasche Portwein. Der lange Countdown bis zum 15. Januar. Der letzte lange Atemzug vor dem Krieg.
    Im Wohnzimmer zündet sich Mustapha eine Zigarette an, eine lockere Selbstgedrehte. Der Tabakrauch würgt mich im Hals.
    Rahim sieht mich an. »Was ist los?«, will er wissen, und ich bin außer mir, fassungslos vor Liebe, unserer Liebe. Wir schaffen das, denke ich und schaue auf seine Hand mit dem alten Silberlöffel, seine Finger, die selbst einfachste Aufgaben mit solcher Anmut verrichten. Ich schaffe das.
    Natürlich schaffe ich es nicht. Ich will es ihm sagen, aber ich kann es nicht.
    Dann eben die wirkliche Geschichte. Nicht die, die ich mir all die Jahre erzählt habe, sondern die Wahrheit. Der erste Betrug von wie vielen? Nicht für mein Land. Nicht einmal für Gott.
    Und was müsste ich jetzt tun? Nicht
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