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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
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Kopfnicken auf die ältere Frau, die die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und gesenkten Hauptes weinte. »Wer ist das?«
    »Das ist seine Mutter.«
    Die Männer waren jetzt still.
    »Verstehst du nun?« Corelia streckte die Hand aus und berührte seinen Arm. »Komm mit«, sagte sie leise. »Bitte.«
    »Weiß dein Vater, wo du bist?«
    »Nein.«
    »Misch dich nicht ein«, sagte Corax. »Das ist mein Rat.«
    Und ein kluger Rat, dachte Attilius, denn wenn ein Mann jedes Mal eingreifen würde, wenn er davon hörte, dass ein Sklave grausam behandelt wurde, dann hätte er weder Zeit zum Essen noch zum Schlafen. Ein Seewasserbecken voll toter Meerbarben? Das ging ihn nichts an. Er musterte Corelia. Aber andererseits – wenn der arme Kerl tatsächlich nach ihm verlangt hatte.
    Omen, Vorzeichen, Auspizien …
    Wasserdampf, der zuckte wie eine Angelschnur. Quellen, die in die Erde zurückkehrten. Ein Aquarius, der sich in Luft aufgelöst hatte. Hirten, die behaupteten, auf den unteren Hängen des Vesuv Riesen gesehen zu haben. In Herculaneum hatte eine Frau angeblich ein Kind mit Flossen anstelle von Füßen zur Welt gebracht. Und jetzt war in Misenum ein ganzes Becken voller Meerbarben verendet, im Laufe eines einzigen Nachmittags und ohne ersichtlichen Grund.
    Jemand musste endlich versuchen, eine Erklärung für diese Vorgänge zu finden.
    Er kratzte sich am Ohr. »Wie weit ist diese Villa entfernt?«
    »Bitte. Nur ein paar hundert Schritte. Gar nicht weit.« Sie ergriff seinen Arm, und er ließ es zu, dass sie ihn mitzog. Diese Corelia Ampliata war keine Frau, der man sich leicht widersetzen konnte. Vielleicht sollte er sie wenigstens zu ihrer Familie zurückbegleiten. Für eine Frau ihres Alters und ihres Standes war es alles andere als sicher, auf den Straßen eines Kriegshafens unterwegs zu sein. Über die Schulter forderte er Corax auf, ihm zu folgen, aber Corax zuckte nur die Achseln. »Misch dich nicht ein!«, rief er – und dann war Attilius, bevor er recht wusste, was geschah, durch das Tor auf die Straße hinausgegangen, und die anderen waren nicht mehr zu sehen.
     
    Es war ein oder zwei Stunden vor Anbruch der Dämmerung, die Zeit, zu der die Menschen in diesem Teil des Mittelmeerraums langsam aus ihren Häusern herauskamen. Nicht, dass die Stadt viel von ihrer Hitze eingebüßt hatte. Die Steine glichen Ziegeln frisch aus dem Brennofen. Alte Frauen saßen auf Hockern neben ihren Haustüren und fächelten sich Luft zu, während die Männer trinkend und schwatzend an den Theken standen. Vollbärtige Thraker und Dalmatier, Ägypter mit goldenen Ringen in den Ohren, rothaarige Germanen, olivenhäutige Griechen und Kilikier, große, muskelbepackte Nubier, kohlschwarz und mit vom Wein blutunterlaufenen Augen – Männer aus allen Teilen des Imperiums, alle von ihnen verzweifelt genug oder ehrgeizig genug oder dumm genug, fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens an den Riemen der Galeeren zu verbringen, um Bürger Roms zu werden. Von irgendwo in der Unterstadt, in der Nähe der Küste, drangen die Töne einer Wasserorgel herauf.
    Corelia stieg die Stufen schnell hinauf. Sie raffte ihre Röcke mit beiden Händen; ihre weichen Hausschuhe machten keinerlei Geräusch auf den Steinen. Die Sklavin rannte voraus, und Attilius lief hinterher. »›Nur ein paar hundert Schritte‹«, murmelte er. »›Gar nicht weit‹ – ja, aber die ganze Strecke bergauf!« Er schwitzte so sehr, dass ihm die Tunika am Rücken klebte.
    Endlich gelangten sie auf ebenes Gelände, und vor ihnen lag eine lange, hohe Mauer, rötlich gelb und mit einem eingelassenen Torbogen, über dem zwei schmiedeeiserne Delphine hochsprangen, um sich zu küssen. Die Frau eilte durch das unbewachte Tor, und Attilius blickte sich kurz um und folgte ihr. Im selben Moment trat er aus der lauten, geschäftigen, staubigen Wirklichkeit in eine stille Welt aus Blautönen, die ihm den Atem raubte. Türkis, Lapislazuli, Indigo, Saphir – jedes Edelsteinblau, das Mutter Natur je erschaffen hatte, erhob sich in Schichten vor ihm, von kristallenen Untiefen über tiefes Wasser und einen scharf umrissenen Horizont bis zum Himmel. Die Villa selbst lag am unteren Ende einer Reihe von Terrassen, mit der Rückfront zur Bergflanke und der Fassade zum Golf, einzig und allein für dieses herrliche Panorama erbaut. An einer Mole war ein zwanzigrudriges Luxusboot vertäut, karminrot und goldfarben gestrichen und mit dazu passenden Teppichen auf dem Deck.
    Ihm blieb kaum die Zeit,
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