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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
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stimme nicht mit dem Wasser. Warum nur wolle ihm niemand zuhören?
    Corelia strich Atia über die grauen Haare und versuchte, sie mit sanften Lauten zu beruhigen. Etwas anderes konnte sie kaum tun. Ihren Vater um Gnade zu bitten hatte keinen Sinn – das wusste sie. Er hörte auf niemanden, schon gar nicht auf eine Frau, und von allen Frauen am allerwenigsten auf seine Tochter, von der er bedingungslosen Gehorsam verlangte – eine Einmischung von ihr würde den Tod des Sklaven nur umso sicherer herbeiführen. Auf Atias Flehen konnte sie nur erwidern, dass es nichts gab, was sie tun könne.
    Plötzlich riss sich die alte Frau – die in Wirklichkeit erst in den Vierzigern war, aber, Coreha wusste, dass Sklavenjahre doppelt zählten, mindestens wie sechzig aussah – los und wischte sich mit dem Arm die Tränen ab.
    »Ich muss jemanden finden, der uns hilft.«
    »Atia, Atia«, sagte Coreha sanft. »Wer sollte dir helfen?«
    »Er hat nach dem Aquarius gerufen. Hast du es nicht gehört? Ich werde den Aquarius holen.«
    »Und wo ist er?«
    »Vielleicht unten beim Aquädukt, wo die Wasserleute arbeiten.«
    Atia stand jetzt aufrecht da, zitternd, aber entschlossen, und sah sich hektisch um. Ihre Augen waren rot, ihre Kleidung und ihr Haar in Unordnung. Sie sah aus wie eine Wahnsinnige, und Coreha erkannte sofort, dass niemand auf sie hören würde. Man würde sie auslachen oder sie mit Steinen vertreiben.
    »Ich komme mit«, sagte sie, und als ein weiterer Entsetzensschrei von der Küste heraufdrang, raffte Coreha ihre Röcke mit einer Hand zusammen und ergriff mit der anderen das Handgelenk der alten Frau. Zusammen liefen sie durch den Garten, am leeren Pförtnerhocker vorbei und durch den Seiteneingang hinaus in die grelle Hitze der öffentlichen Straße.
     
    Der Endpunkt der Aqua Augusta war ein riesiges unterirdisches Reservoir, ein paar hundert Schritte südlich der Villa Hortensia, in den Abhang oberhalb des Hafens hineingehauen und seit Menschengedenken Piscina mirabilis – Becken der Wunder – genannt.
    Von außen betrachtet war nichts Wundervolles an der Piscina, und die meisten Bewohner von Misenum gingen daran vorbei, ohne einen zweiten Blick auf sie zu werfen. Sie sahen nur ein niedriges Gebäude aus roten Ziegelsteinen mit einem flachen Dach, von blassgrünem Efeu überrankt, einen Häuserblock lang und einen halben breit, umgeben von Werkstätten und Speichern, Schenken und Wohngebäuden, versteckt in den staubigen Nebenstraßen oberhalb des Kriegshafens.
    Erst nachts, wenn die Geräusche von der Straße und die Rufe der Händler verstummt waren, war das leise, unterirdische Donnern fallenden Wassers zu hören, und nur wer das Gelände betrat, die schmale Holztür aufschloss und ein paar Stufen in die eigentliche Piscina hinabstieg, konnte das Reservoir in seiner vollen Pracht würdigen. Die gewölbte Decke ruhte auf achtundvierzig Pfeilern, jeder mehr als fünfzig Fuß hoch – wenn auch der größte Teil von ihnen unter Wasser lag –, und das Echo des einströmenden Wasser war so laut, dass es einem durch Mark und Bein ging.
    Der Wasserbaumeister konnte stundenlang hier stehen, lauschend und in Gedanken versunken. Für ihn war der Widerhall der Aqua Augusta kein dumpfes, stetiges Dröhnen, sondern das Spiel einer riesigen Wasserorgel, die Musik der Zivilisation. Im Dach der Piscina gab es Luftschächte, und nachmittags, wenn die schäumende Gischt ins Sonnenlicht emporschoss und zwischen den Pfeilern Regenbogen tanzten – oder abends, wenn er für die Nacht abschloss und das Licht seiner Fackel auf der glatten schwarzen Oberfläche aussah wie Gold auf Ebenholz –, in solchen Momenten hatte er das Gefühl, sich überhaupt nicht in einem Reservoir zu befinden, sondern in einem Tempel, geweiht dem einzigen Gott, an den zu glauben sich lohnte.
    Als Attilius am Ende jenes Nachmittags von den Bergen herunterkam und das Gelände erreichte, war sein erster Impuls, den Wasserstand im Reservoir zu überprüfen. Das war für ihn zu einer Besessenheit geworden. Doch als er die Tür öffnen wollte, stellte er fest, dass sie verschlossen war, und ihm fiel ein, dass Corax den Schlüssel an seinem Gürtel trug. Er war so erschöpft, dass er ausnahmsweise nicht weiter darüber nachdachte. Das ferne Plätschern der Aqua Augusta war deutlich zu hören – das Wasser lief noch, das war alles, was zählte –, und als er später dazu kam, sein Verhalten an jenem Nachmittag zu überdenken, gelangte er zu dem Schluss, dass
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