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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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breit kein Land. Der Copilot hatte jetzt plötzlich eine Pistole in der Hand. Er setzte sie an Wes' linke Schläfe. Wes konnte die kühle Mündung spüren. Gehörte das zum Fliegenlernen? Er war sich nicht sicher. Der Copilot sah ihm ernst in die Augen. Dann nahm er die Pistole wieder weg. Alles nur ein Spiel. Er sagte etwas, was möglicherweise »Geht auch so« bedeuten sollte, aber der Lärm der Turbine war zu stark, um ihn zu verstehen. Wes war jetzt doch erleichtert. Die Pistole hatte ihm nicht sehr gefallen. Der Copilot öffnete mit einem Handgriff die Verriegelung von Wes' Gurten. Wie leicht das war! Man musste nur den Mechanismus kennen. Der Mann salutierte, indem er sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Stirn tippte. Dann kippte er Wes mit einem kraftvollen Ruck aus dem Hubschrauber. Für einen Moment fühlte sich Wes, als würde er neben dem Hubschrauber schweben, wie ein zweites, kleineres Fluggerät. Dann zog ihn die Schwerkraft nach unten.
    »Ich kann fliegen«, dachte er, und gleichzeitig hörte er aus seinem eigenen Mund den lang gezogenen Schrei eines sterbenden Tiers.
     

Nachspiel
    Eigentlich war der Raum freundlich. Er wirkte nicht wie das Zimmer einer Klinik. Eher wie ein Wohnzimmer. Blumen, Bilder, saubere Tischdecken. Die Möbel waren geschmackvoll, skandinavische Fichte. Der ganze Raum strahlte eine große Freundlichkeit aus. In einer angrenzenden Kammer stand das komfortable Bett. Kramer hatte es noch nicht gemacht, seit er an diesem Morgen darin aufgewacht war. Wenn er seinen Hals so weit wie möglich nach rechts drehte, konnte er einen Zipfel der Bettdecke sehen, die auf dem wellenförmig gemusterten Teppichboden lag. Die Fenster der kleinen Wohnung gingen nicht auf den Hof einer Anstalt. Draußen lag scheinbar eine Obstbaumwiese im Sommer. Wenn man die Fenster öffnete, konnte man die Vögel zwitschern hören. Man konnte nicht hinausklettern (Kramer hatte es versucht), aber das änderte nichts an der schönen Aussicht.
    »Verstehen Sie?«, sagte Frau Dr. Lorenz. Durch die entspiegelte und verzerrungsfreie Trennscheibe konnte er sie gut sehen. Sie saß auf einem sachlichen Stuhl in der Beobachtungskammer und sah ihn mit freundlichem Interesse an. Wirkte jünger als bei ihrer letzten Begegnung. Kramer hätte sie jetzt auf Mitte vierzig geschätzt. Das war keine Arbeitskleidung, was sie trug: rostrote, elegante Schuhe, einen knielangen grauen Rock und ein weißes, sportliches Hemd, dessen zwei oberste Knöpfe geöffnet waren. Ihr Make-up war perfekt, ihre Ausstrahlung umwerfend. Zu seinem eigenen Ekel bemerkte er, dass er sie begehrte. Sie quälen mich mit dieser Softwarepuppe. Es ist das Spiel. Meine Lust gehört zum Spiel. Polyplay.
    »Sie müssen verstehen, dass Sie ein schweres Trauma hinter sich haben. Die vertrauteste Person in Ihrem Leben hat Sie belogen. Jahrelang. Systematisch. Sie sind von heute auf morgen obdach- und arbeitslos geworden. Sie haben quasi alles verloren, was Ihr Leben ausmacht. Das ist ein Schock, den keiner ohne Blessuren übersteht. Deswegen geht es für Sie jetzt vor allem um Ruhe und Ausgleich. Um Entspannung, soweit das eben möglich ist. Ihr Aufenthalt bei uns soll Ihnen die Möglichkeit geben, sich auszuruhen.
    Während Sie zur Ruhe kommen, werden wir mit Ihrer Dienststelle sprechen. Wir werden mit Ihrer Frau sprechen. Wir werden sehen, was möglich ist, damit Sie zum richtigen Zeitpunkt Ihre ganz persönlichen Probleme in einem Zusammenhang angehen können, der Sie nicht überfordert. Damit das Leben weitergeht. Wir verstehen uns hier als eine Art … Puffer, der zwischen Sie und die Realität eingeschaltet wird, um Ihren psychischen Stress zu mildern.« Sie lächelte. »Wir haben Sie in der Pension Aurora mit einer schweren Alkohol- und Barbituratvergiftung aufgegriffen, aber ich bin mir sicher, dass Sie hauptsächlich an einem traumatischen Belastungssyndrom leiden und nicht an einer stofflichen Abhängigkeit. Verstehen Sie?«
    Ich bin Software, dachte er. Das hier ist Polyplay. Das Spiel geht weiter. Alles, was ich sage oder tue, wird diese Softwarepuppe als Beweis für meine Verrücktheit interpretieren. Ich bin kein Mann. Sie ist keine Frau. Sie ist nicht einmal eine der … wie hieß das auf dem Administratorenniveau? »Emergenzen«? Einer der Götter dort hatte ihn eine »Emergenz« genannt. Er hatte es laut und deutlich gehört, und auch das war Absicht gewesen. Frau Dr. Lorenz ist eine Softwarestatistin, die nicht überzeugt werden kann. Alles, was
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