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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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Mann saß vor einem Regal mit vielen Büchern. Sein Gesicht wirkte gleichzeitig ernst, müde und entschlossen. Kramer kannte diesen Mann nicht, aber er wirkte wie ein westdeutscher Bundeskanzler bei der traditionellen Fernsehansprache zu Neujahr. Der letzte Bundeskanzler, an den sich Kramer erinnern konnte, hatte Helmut Kohl geheißen und saß seines Wissens im Gefängnis. Der hier sah nicht aus wie Helmut Kohl. Auch wenn er auf ähnliche Art eine Aura staatsmännischer und historischer Würde um sich zu verbreiten versuchte wie der Dicke. Der Mann setzte zu einer Rede an. Gleich der erste Satz verwirrte Kramer komplett.
    »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen.«
    Was?, dachte Kramer. Was ist das? Die NATO führt Krieg gegen Jugoslawien? Die NATO gab es seit über zehn Jahren nicht mehr. Sie täuschen mich. Erst wollen sie mir weismachen, dass ich eine Maschine bin, dann stellen sie die Weltpolitik auf den Kopf, wie es ihnen passt. Das ist ein Schauspieler, der in einem Film die Erklärung zum Auftakt des Dritten Weltkriegs abgibt.
    »Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.«
    Meine Güte, dachte Kramer. Das muss eine echte Rede sein. So reden nur Politiker, wenn sie das Offensichtliche leugnen wollen.
    »An dem Einsatz der NATO sind auch Soldaten der Bundeswehr beteiligt. So haben es die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag beschlossen – in Übereinstimmung mit dem Willen der großen Mehrheit des deutschen Volkes.«
    Ich kann das nicht glauben. Ich will das nicht glauben. Jugoslawien ist ein sozialistischer Bundesstaat! Die BRD gibt es nicht mehr, genauso wenig wie die NATO! Aufhören mit diesem Unsinn! Sofort aufhören!
    Kramer merkte erst, dass er das laut gesagt hatte, als Zeus den Mann mit einer Handbewegung mitten im Wort unterbrach. Gerade noch hatte er gesagt: »An unserer Entschlossenheit –«, dann war er verstummt und mit offenem Mund an der Wand des Tempels eingefroren.
    »Aufhören!«, sagte Kramer noch einmal mit rauer Kehle. »Was soll das?«
    »Was das soll?«, fragte Zeus. Er wandte sich hilfesuchend an seine Freunde. »Er fragt, was das soll!« Die anderen lachten. »Das ist die Realität, mein Oberleutnant! Und wir nennen sie das Nullniveau! Du denkst wohl immer noch, die DDR habe die BRD geschluckt, aber in Wirklichkeit war es genau umgekehrt. Die Hauptstadt der BRD ist heute Berlin. Es gibt keine Volkskammer mehr, keine deutsche Volkspolizei und keinen Sozialismus. Das Regierungsoberhaupt, der Bundeskanzler, heißt Gerhard Schröder, und was du da eben gesehen hast, war seine Ansprache vom 24.3.1999, als er Jugoslawien den Krieg erklärte. Du hast ihn ja gehört. Er musste die Menschenrechte in Jugoslawien verteidigen. Aber das weißt du nicht. Und du begreifst es nicht, weil du dich selbst und deine Lage noch nicht begreifst. Das hier ist Polyplay. Die mächtigste virtuelle Plattform für experimentelle Soziologie, die es gibt. Wir Spieler spielen Dutzende, Hunderte von Konfigurationen durch. Was wäre, wenn. Die große Frage. Ein Chile, in dem Allende nie an die Macht kam. Ein Amerika, in dem die britischen Kolonialtruppen den zweiten Krieg gegen die aufständischen USA von 1812-1814 gewinnen. Eine Sowjetunion, in der Trotzki 1924 das Ruder übernimmt und nicht Stalin. Wir spielen alles durch. Wir wollen wissen, was wäre, wenn. Wie entwickelt sich Geschichte?«
    »Eigentlich«, warf Karl Marx ein, »ist Polyplay ein privates Forschungsprojekt. Am Anfang wollten wir herausfinden, was eine soziale Handlung ist, wer unter welchen Bedingungen wie handelt, wie sich die Subjekte sozialer Handlungen selbst verstehen, wie und wann aus Individuen ein Kollektiv wird. Diese Anliegen sind … in Vergessenheit geraten.«
    Marx sah Zeus offen an. Zeus lächelte.
    »Aber keineswegs, verehrter Herr Marx, keineswegs! Nur wollen wir über unserem Forschungsauftrag ja nicht den Spaß vergessen. Wie schön, dass sich in diesem Fall das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet. Denn was kann für unser Forschungsvorhaben nützlicher sein und gleichzeitig mehr Spaß machen als die Beobachtung unserer Emergenzen?«
    Zeus wandte sich wieder Rüdiger zu.
    »Was macht intelligente Software innerhalb von Polyplay? Kommt sie zu einer Art Selbstbewusstsein? Erkennt sie die Lage? Kann sie die logischen Fehler ihrer ›Realität‹
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