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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
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mich auch, was eine zusätzliche Option ist. Hat man nicht immer eine zusätzliche Option? Aber der meinte etwas ganz Bestimmtes. Immer diese Geheimnistuerei.

5.
    Lüthi war zwar noch da, aber ohne Gebrauchswert. Blieb noch Rita Vischer, die dritte Interviewte. Rita Vischer war sechzig, hatte also alles schon gesehen. Sie war Mutter von zwei erwachsenen Kindern, Großmutter, Großtante, Kantonsrätin, Organisationsberaterin, Mitglied von zehn Vereinen und fünf Genossenschaften. Es hatte sie einigen Mut gekostet, dazu zu stehen, dass sie Manetti gelesen hatte. Manetti-Leser galten ein bisschen als gefühlsduselige Nostalgiker, auch wenn er völlig im Trend war. Ein Christoph Blocher las keinen Manetti. Alt-Bundesrat Merz hatte erklärt, er habe Manetti in einem Hotel auf Lipari gelesen. Aber er war halt ein Robert-Walser-Fan. Ein UBS-Direktor las ihn auch nicht. Eine Stadtpräsidentin schon. (Da für Kultur und Literaturpreise zuständig. Vielleicht blättert sie auch nur geistesabwesend darin.) Manetti definierte eine bestimmte Szene, die sich sonst der Definition entzog.
    Ihr Gespräch im
Magazin
hatte ihr wahrscheinlich sogar noch Stimmen gebracht. Sie galt jetzt als sympathisch.
    Nora Nauer: Frau Vischer, wie haben Sie Zeit gefunden, Manetti zu lesen?
    V.: Es ist immer wieder gut, wenn man sich Zeit zum Innehalten nimmt und sich fragt: Wozu mache ich das alles überhaupt? In der Politik überwiegt ja das Tagesgeschäft, esist immer etwas Dringendes los, man muss immer sofort reagieren. Ich wollte schon lange eine Auszeit nehmen. Da erwähnte eine Freundin von mir Manetti. Lies doch einfach Manetti, sagte sie, da bist du einen Monat weg vom Fenster. Ich fragte mich natürlich sofort: Wer ist dieser Manetti überhaupt? Ein Schriftsteller, ein Philosoph, einer dieser psychologischen Ratgeber wie der mit dem Loslassen-Prinzip? Nichts von alledem, antwortete meine Freundin. Er starb, bevor er publiziert wurde, er hat nur für sich geschrieben. Das interessierte mich. Ich meine, die meisten Autoren versuchen, einem etwas aufzuschwatzen, sie versuchen, Geld zu machen, berühmt zu werden. Bei Manetti war das anders.
    N.: Nun ist er aber doch berühmt geworden.
    V.: Aber er hat nichts davon. Er ist ja tot. Berühmt sind höchstens seine Leser-äh-Innen.
    N.: Unter anderem Sie. Dass Sie öffentlich dazu stehen, Manetti zu lesen, wird Ihre Chancen für die nächste Regierungsratswahl nicht gerade erhöhen.
    V.: (lacht) Da könnte man sich noch täuschen. Doch darum geht es nicht. Es geht nicht einmal um Manetti. Er war kein besonders interessanter Mensch: ein reicher Müßiggänger ohne wirkliche Probleme. Nicht krank, keine ausgefallenen Hobbys, nicht unglücklich. Nicht gerade ein Genie, aber doch intelligent, aufmerksam, gut informiert, präsent. Aber er hatte eine Ebene gefunden, die fehlte. Vor allem das »Einschnappen« hat er brillant beschrieben.
    N.: Was meinen Sie mit »Einschnappen«?
    V.: Sie haben ja Manetti nicht gelesen, also ist es ziemlich schwierig, das zu beschreiben. Sie sind auch relativ jung, ich bin eine ältere Frau. Ich habe die sechziger Jahre noch erlebt. Sie werden natürlich immer überschätzt, rückwirkend glorifiziert. Eigentlich waren ja die siebziger Jahre viel entscheidender. Damals wurde etwas verpasst. Irgendwie ist der Impuls der sechziger Jahre auf Abwege geraten, ja sogar vom System umgeleitet und verwertet worden. Darum ist dann in den Achtzigern etwas eingeschnappt. Es hat sich etwas verhakt und verhängt, wie bei einer Strickarbeit. Irgendwiesind wir nicht mehr weitergekommen. Es war falsch eingefädelt, und wir konnten nicht mehr zurück.
    N.: Sie sind ja Politikerin. Meinen Sie damit den neoliberalen Backlash?
    V.: Nein, ich meine das, was ihn ermöglicht hat. Die Neoliberalen – Thatcher, Reagan, aber auch all die Mitterrands, Schröders und Blairs – haben nur ausgeführt, was wir alle halbwegs bewusst beschlossen hatten. Ich erinnere mich noch an den Winter des Aufruhrs –
the winter of discontent
– 1978/79, als in England gegen die Labour-Regierung gestreikt wurde. Ich studierte damals an der London School of Economics. Die Inflation war hoch, die Wirtschaft stagnierte. Und die Gewerkschaften verlangten einfach mehr Lohn. Du stehst auf einer Sandinsel in einem reißenden Fluss und rufst nach mehr Sand. Die alte Leier. Das ging nicht mehr. Keynes wirkte nicht mehr. Callaghan gab einfach auf. Und dann waren alle erlöst, als Thatcher kam. Die Linke war erschöpft,
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