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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
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einfach. Es gibt keinen typischen Manetti-Stil. Da er nicht für Leser schrieb, musste er auch niemanden beeindrucken. Wer Manetti liest, liest ihn daher mit Bestimmtheit zwei Mal. Das erste Mal aus Neugier, das zweite Mal aus Verwunderung, dass es solche Texte überhaupt geben kann.
    Was Manetti zu sagen hat, ist nicht besonders originell. Da er eine umfassende humanistische Bildung genossen hatte und rundum belesen war, entdeckt man Bezüge zur neueren Schweizer Literatur – Frisch, Dürrenmatt, Bichsel, Loetscher, Muschg – ohne weiteres. Originalität ist etwas, das man für sich selbst nicht braucht. Wenn er redet, hat man das Gefühl, dass er einem aufmerksam zugehört hat, ja, dass er das besser sagt, was man gerade sagen wollte. Manetti hat tatsächlich in Zürich Psychologie und Philosophie studiert. Er hat über einen obskuren Vorsokratiker namens Hekataios von Milet promoviert. In den Medien ist viel über ihn und das Phänomen seines Erfolgs geschrieben worden. Seine Schwester Elsa – ein Name, der mich immer an eine Firma für Elektronikteile erinnert, aber Namen sind Namen, da kann man nichts machen – hat eine ganze Reihe von Interviews gegeben. Inzwischen kennt man Roberto Manetti ziemlich gut. Wahrscheinlich bin ich ihm oft begegnet, ohne ihn zu beachten. Er war bei verschiedenen Ereignissen dabei, bei denen ich auch dabei war: zum Beispiel bei der ersten Besetzung des Zürcher AJZ, bei einer Demo für das alternative Kulturzentrum Rote Fabrik, bei der Tschernobyl-Demo in Bern, beim Stauffacher-Tribunal gegen Immobilienspekulanten auf dem Helvetiaplatz, bei der Veranstaltung im Schauspielhaus zum »leergeglaubten Staat« (anlässlich des 700-Jahre-Jubiläums 1991), bei vielen Konzerten und Ausstellungen. Er ist aber nie prominent aufgetreten, er muss sich immer am Rand aufgehalten haben. Was nichtheißt, dass er in entscheidenden Momenten nicht aktiv gewesen sein könnte. Elsa hat keine Fotos von ihm veröffentlichen lassen. Aber ich weiß, wie er aussah: groß, hager, immer mit teuren, weißen Tennisschuhen und Jeans, dazu dezente helle Pullover, meist über die schmalen Schultern drapiert. Er hatte schütteres blondes Haar, ein dünnes Bärtchen und einen Schnurrbart. Seine Nase war markant, er trug eine randlose Brille und hatte graue Augen. Er war immer zugänglich und freundlich, auch in angespannten Situationen. Wie ein guter Geist tauchte er auf und verschwand. Ich habe ihn gekannt, aber wahrscheinlich nie direkt mit ihm geredet.

2.
    Von Thomas Schneider, seinem ersten Leser und Lektor, habe ich weitere Details über Manettis Leben erfahren. Die Notizbücher wurden ja nur darum publiziert, weil Schneiders Freundin K. mit Elsa bei einer Szenographie in einer abgelegeneren Halle der Expo.02 zusammenarbeitete. Beide waren sie Bekannte von Pippilotti Rist. Klar, in Zürich ist praktisch jeder ein Bekannter von Pippilotti Rist – ich habe damals bei einer literarischen Modenschau (bunte Hemden, Fische mit Zähnen) mitgewirkt, die von ihren Freundinnen organisiert wurde. Das Hemd habe ich immer noch, und kürzlich hat mir ein alter Schulfreund sogar den auf Schreibmaschine getippten Programmablauf zugesandt, den er beim Aufräumen fand. Aber zurück zu Roberto Manetti.
    Es war Mitte Juli, als ich Thomas Schneider wieder einmal im Grand Café am frisch beruhigten Limmatquai traf. Thomas trägt immer einen eleganten, absichtlich zerknitterten Anzug, dazu eine unauffällige Krawatte. Er geht selten zum Coiffeur und verunstaltet sein Gesicht mit einer monströsen Hornbrille, die wahrscheinlich an Max Frisch erinnern soll. Typisch für ihn ist auch, dass er nie etwas bei sich hat. Er bittet einen dauernd um Schreibzeug, um Feuer, um die Benutzung des Mobilfons. Dabei sagt er nichteinmal: »Hättest du Feuer, bitte?«, sondern fuchtelt einem nur vor der Nase herum. Selbstverständlich hat er auch nie Geld dabei – es scheint ihm nicht aufgefallen zu sein, dass ich seinen Kaffee (mit oder ohne Croissant) seit Monaten bezahle. Aber da er ein liebenswürdiger Zeitgenosse ist und viele Interna zu berichten weiß, macht mir das gar nichts aus.
    Während also drei Tische hinter uns Hugo Loetscher die
NZZ
las, erfuhr ich einiges über die Familie Manetti. (Hugo Loetscher sitzt manchmal auch im Odeon. Er ist das Urbild eines Literaten – gebildet, weit gereist, belesen, aufmerksam. Er kann gut formulieren. Er hasst Muschg, weil Muschg sich als Frisch-Ersatz betrachtet und immer wieder völlig
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