Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Autoren:
Vom Netzwerk:
umständliche, nichtssagende, aber manifestartigumfassende Stellungnahmen zum Zeitgeschehen abgibt. Wenn man sie gelesen hat, fragt man sich: Was hat Muschg jetzt gesagt? Wenn man also mit Muschg nichts anfangen kann, dann passt einem Loetscher gerade. Loetscher schreibt seit Jahren auf einem Computer, der ihm geschenkt wurde. Schade, man hätte ihn doch gerne noch nervös Zigaretten rauchend an einer Hermes-Baby sitzen sehen. Aber er ist ein echter Literat, er hat auf jede Frage eine einigermaßen bemerkenswerte Antwort. Meist kommt er auf seine Jugend in Aussersihl, auf seine Zeit beim
du
oder auf Brasilien zu sprechen. Loetscher ist lesbar – aber natürlich kein Vergleich mit Manetti. Der übrigens auch lange in Brasilien lebte.)
    »Die Manettis stammen ursprünglich aus dem Aosta-Tal«, begann Thomas, als er sich eine meiner Zigaretten mit meinem Feuerzeug angezündet hatte, »sie waren wahrscheinlich Waldenser und im Seidenhandel tätig. Also hatten sie immer schon Beziehungen nach Lyon und Zürich. Dann kamen die Verfolgungen. Gegenreformation. Sie verloren alles und siedelten nach Bergamo über, wo sie einen Gemischtwarenladen eröffneten. Sie verhielten sich religiös unauffällig – das ist die Stadtpräsidentin.«
    Er lenkte meinen Blick auf eine elegant gekleidete junge Frau mit blondem Wuschelschopf, die über die erhöhtenRandsteine bei der Tramstation hüpfte und Richtung Rathaus eilte.
    »Sie hat nichts dabei«, bemerkte ich.
    »Wahrscheinlich trägt man ihr alles nach. Eine Stadtpräsidentin mit bauchiger Ledermappe wäre ja auch ein ziemliches Stilverbrechen. Man hat alles im Kopf oder kann es auf dem iPhone abrufen. Eine mittlere Akte hat kaum fünfzig Kilobyte, ein Roman im Layout vielleicht zwei Megabyte. Ein Mensch, der noch Unterlagen herumträgt, ist praktisch ein Neandertaler.«
    »Vielleicht ist die Goldbrosche an ihrem Lederjäckchen ein 16-Giga-USB-Stick.«
    »Darin könnte man alles Wesentliche über die westliche Zivilisation unterbringen.«
    Hinter uns räusperte sich Hugo Loetscher. Thomas hatte ein bisschen zu laut gesprochen. Er hat diese Angewohnheit: Wenn er etwas Zitierbares sagt, dann will er, dass man es rundherum hört. Insofern gleicht er Muschg.
    »Diesen Herbst werde ich von Corine Mauch meinen Literaturpreis entgegen nehmen«, prahlte Thomas vor sich hin.
    »Warum du? Du hast doch nichts geschrieben!«
    »Klar nicht – aber ich habe etwas gelesen, vor allen andern. Und ich habe daraus ein Buch gemacht.«
    Eigentlich logisch, dass für ein Buch, das keinen greifbaren Autor hat, der erste Leser und Lektor einen Anerkennungspreis bekommt. Wer sonst?
    »Natürlich kenne ich Corine schon lange, sie ist mit meiner Freundin befreundet. Beide sind seit langem in der SP.«
    Wieder räusperte sich Hugo Loetscher – war er nicht auch in der SP?
    »Wir waren beim Gemischtwarenladen in Bergamo stehen geblieben.«
    »Am Anfang des letzten Jahrhunderts rutschten sie in den Kaffeehandel und begannen, eine kleine Kaffeerösterei zu betreiben. Sie waren sehr erfolgreich und eröffneten bald Filialen in Milano, Como und dann in Chiasso. Sie erfanden eine bartaugliche Espressomaschine und bauten einekleine Fabrik in Milano. Dann kam Mussolini, und sie dislozierten nach Lugano.«
    »Warum? Was hatten sie von ihm zu befürchten?«
    »Nun, es gab Gerüchte über eine Großmutter, die Levi hieß.
    Die Manettis hatten Erfahrungen mit Verfolgungen und wollten vorsichtig sein. Zudem stellte sich der Umzug später als geschäftlicher Geniestreich heraus. In den fünfziger Jahren griff die italienische Kaffeekultur auf die Schweiz über. Sie expandierten nach Zürich und wurden nach einigen Jahren Bürger von Zürich. Roberto besuchte hier das Gymnasium. Er sollte Wirtschaftswissenschaften studieren, um das elterliche Geschäft zu übernehmen. Er ging brav nach St. Gallen und eignete sich betriebswirtschaftliches Wissen an, brach aber das Studium bald ab. Um seine Eltern nicht zu enttäuschen, begann er, sich um das Geschäft zu kümmern, schrieb sich aber zugleich an der Universität Zürich ein. Er studierte dies und das, Romanistik, Mathematik, Geschichte, Psychologie, hörte Emil Staiger zu, las Max Frisch, was man halt Anfang der sechziger Jahre so tat.«
    Man kann all das in Max Frischs Tagebüchern nachlesen. Seltsamerweise kommt der große Literaturstreit (»Dann frage ich Sie: in welchen Kreisen verkehren Sie?«) nur nebenbei vor. Genau genommen war es ja gar kein richtiger Streit. Man
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher