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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Autoren: Etgar Keret
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Flüchtlingsstatus in den USA erhalten hatte, nachdem seine Familie aus Versehen von einer F-16 bombardiert worden war, was ein versuchter Anschlag auf das Leben von Sadam Husseins Söhnen hätte sein sollen. Seine Frau, sein Vater und seine beiden kleinen Söhne waren getötet worden, und nur seine älteste Tochter Soha blieb am Leben. In einem Interview mit CNN sagte der Arzt, dass er trotz seiner persönlichen Tragöde dem amerikanischen Volk nicht zürne. Aber die Wahrheit war, dass er sehr wohl zornig war. Noch mehr als das, er kochte vor Wut auf das amerikanische Volk, doch er begriff, wenn er eine Greencard wollte, würde er in dieser Angelegenheit lügen müssen. Während er log, dachte er an seine toten Familienangehörigen und an seine lebende Tochter. Er glaubte, dass eine Erziehung in den Vereinigten Staaten das Beste für sie sei, und als er log, tat er es eigentlich für sie. Wie sehr er sich doch täuschte. Seine älteste Tochter wurde mit fünfzehn von irgendeinem fetten Whitetrash geschwängert, der in die Klasse über ihr ging und sich weigerte, das Kind anzuerkennen. Infolge einer Komplikation in der Schwangerschaft erlitt der Säugling, der geboren wurde, einen Gehirnschaden. Und in den Vereinigten Staaten, wie an den meisten Orten auf der Welt, ist dein Schicksal, wenn du die alleinerziehende fünfzehnjährige Mutter eines zurückgebliebenen Kindes bist, im Grunde genommen besiegelt. Es gibt sicher irgendeinen grässlichen Film, in dem behauptet wird, dem sei nicht so, dass du Liebe finden und Karriere machen kannst und was nicht alles. Aber das ist nur Film. Im wahren Leben, von dem Moment an, in dem man ihr mitteilte, dass ihr Kind einen Gehirndefekt hatte, war es, als blinkte ein Neonschild mit der Aufschrift »Game over« in der Luft über ihrem Kopf auf. Vielleicht, wenn ihr Vater in CNN die Wahrheit gesagt hätte und sie nicht hergekommen wären, wäre ihr Schicksal anders verlaufen. Auch bei Nick, wenn er nicht mit dieser Wasserstoffblondine in der Bar rumgemacht hätte, wäre seine Situation und die der Schichtleiterin besser gewesen. Und wenn der Generaldirektor der Jesus-Christ-Kette eine angemessene medikamentöse Behandlung erhalten hätte, wäre seine Lage schlicht optimal gewesen. Und wenn dieser Irre in dem Cheeseburgerlokal Jeremy Kleinman nicht erstochen hätte, wäre Jeremys Lage lebendig gewesen, was, nach Meinung vieler, weitaus besser als der tote Zustand gewesen wäre, in dem er sich nun befand. Sein Tod trat nicht unmittelbar ein. Er keuchte, wollte etwas sagen, doch die Schichtleiterin der Filiale, die seine Hand ergriffen hatte, bat ihn, nicht zu sprechen, um seine Kräfte zu schonen. Er sagte also nichts, versuchte seine Kräfte zu schonen. Versuchte es, jedoch ohne Erfolg. Es gibt so eine Theorie, auch sie von der MIT-Universität, glaube ich, vom Schmetterlingseffekt: Ein Schmetterling flattert an einem von Brasiliens Stränden mit den Flügeln, und als Folge davon bricht auf der anderen Seite der Welt ein Tornado aus. Der Tornado kommt in dem Originalbeispiel vor. Es wäre möglich gewesen, auch ein anderes Beispiel zu erfinden, in dem das Flattern der Schmetterlingsflügel gesegneten Regen bringt, doch die Wissenschaftler, die die Theorie entwickelt haben, wählten einen Tornado. Und das nicht, weil auch sie genau wie der Generaldirektor der Jesus-Christ-Cheeseburgerkette an einer klinischen Depression litten. Es ist deswegen, weil Wissenschaftler, die sich auf Wahrscheinlichkeiten spezialisieren, wissen, dass die Chance, dass etwas Schädliches passiert, tausendfach größer ist als die, dass etwas Nützliches passiert.
    »Halt mir die Hand«, das war es, was Jeremy Kleinman zur Schichtleiterin sagen wollte, während das Leben wie aus einem durchlöcherten Schokodrinkbeutel aus ihm herauströpfelte, »halt sie fest und lass nicht los, egal, was ist.« Aber er sagte es nicht, denn sie bat ihn, nicht zu sprechen. Er sagte es nicht, denn es war nicht nötig – sie hielt seine schweißnasse Hand, bis er starb. Noch lange danach eigentlich. Sie hielt seine Hand, bis die Leute von der Ambulanz sie fragten, ob sie seine Frau sei. Drei Tage später erhielt sie eine E-Mail vom Generaldirektor der Kette. Dieses Ereignis in der Zweigstelle hatte ihn dazu gebracht, die Kette zu verkaufen und seinen Abschied zu nehmen. Die Entscheidung holte ihn in hinlänglichem Maße aus der Depression, um damit anzufangen, E-Mails zu beantworten. Er beantwortete sie von seinem Notebook aus
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