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Piratenbraut

Piratenbraut

Titel: Piratenbraut
Autoren: Astrid Geisler
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werden, die vor dem Parteitag alle Anträge liest, versteht und beschließt!« Dieser Parteitag in Bochum hingegen sei leider nur eine teure Werbeveranstaltung, die zeige, warum das Parteitagskonzept der Piraten nicht funktioniere. Applaus und Pfiffe verschlucken die nächsten Sätze.
    »Ich möchte die anwesenden 2000 Piraten im Saal bitten, sich jetzt nicht alle in die Rednerliste einzureihen«, mahnt die Versammlungsleiterin. Zu spät. Dutzende stehen schon hinter dem Saalmikrofon an, die Schlange zieht sich durch die halbe Halle. Als einer der Ersten ergreift der Berliner Abgeordnete Gerwald Claus-Brunner das Wort, heute mal in blauem Latzhosen-Outfit mit lila Palästinensertuch: »Ich bin hier aus der Zukunft hergeschickt worden, vom Bundesparteitag 2040«, ruft er. »Ich bin mit dem Auftrag hier, euch zu warnen, diesen Antrag anzunehmen.« Der Saal tobt.
    Als wenig später jemand mahnt, die Piraten machten sich zum Gespött, wenn sie einen solchen Quatsch ins Wahlprogramm aufnähmen, brüllt ein dicker Mann am Tisch hinter mir: »Der soll sich in die CDU verpissen!« Irgendwann tritt ein Bauchredner mit Handpuppe ans Mikrofon. »Ich weiß, demnächst werdet ihr auch Puppen aufnehmen«, piepst die Puppe. »Und ich werde der nächste Kanzlerkandidat der Piraten!« Frenetischer Applaus. Als der Antrag schließlich scheitert, tröstet die Versammlungsleiterin die Enttäuschten: »Ich möchte mich trotzdem herzlich bei euch bedanken, dass wir darüber gesprochen haben.«
    Wenn ich mich nicht täusche, hat kein anderes Thema so viele Leidenschaften geweckt wie dieser Gag-Antrag. Sind die Piraten am Ende vielleicht doch auch eine Spaßpartei?
    Als der Parteitag am Abend schließt, sind knapp zwanzig Programmanträge beschlossen – von mehr als 700 eingereichten Papieren. Weder die steuerpolitischen Initiativen von Tom, noch die entwicklungspolitischen Leitlinien von Anna aus meiner Crew wurden debattiert. Und, na klar, unsere Vorschläge zur Familienpolitik auch nicht.
    Für mich hat der Parteitag bewiesen: Das Mitmachversprechen der Piraten geht nicht mehr auf, hier in Bochum ist es zur Farce geworden. Die Idee einer Eins-zu-eins-Basisdemokratie lässt sich in einer Partei mit mehr als 34.000 Mitgliedern offensichtlich kaum noch umsetzen. Es ist schon bemerkenswert, wie stolz die Piratenpartei am Mittag twitterte: Der Parteitag habe eine Rekordbeteiligung erreicht und sei mit mehr als 2000 angereisten Piraten »zugleich die größte demokratische Versammlung der deutschen Geschichte!«. Wie schön, denke ich, aber genau das dürfte auf absehbare Zeit eines der größten Probleme der Piraten sein. Sie sind so groß geworden, dass sie ihre eigenen Versprechen nicht mehr einlösen können.
    Auf der Heimfahrt im ICE zurück nach Berlin frage ich mich, wie es jetzt weitergehen soll für mich und die Piraten. Ich denke zurück an den vergangenen Sommer: Mit welcher Begeisterung ich mich damals in die Programmarbeit gestürzt hatte! Selbst vorgestern hatte ich ja noch gehofft, dieser Bundesparteitag könne meine Stimmung herumreißen. Ich war optimistisch, die schiere Größe dieses Ereignisses würde mich auf irgendeine Art berauschen. Aber die zwei Tage in Bochum haben mich nicht überzeugt.
    Ich zähle nicht zu den Experten in Fragen der »Ständigen Mitgliederversammlung«. Womöglich ist sie tatsächlich ungeeignet, als virtuelles Parteiorgan die demokratischen Prozesse innerhalb der Piratenpartei zu optimieren. Und natürlich weiß ich inzwischen, welcher Glaubensstreit unter Piraten um die Meinungsbildungssoftware Liquid Feedback tobt. Aber warum führt meine Partei nicht wenigstens offensiv diese Debatte? Wie wollen die Piraten der politischen Konkurrenz künftig noch guten Gewissens deren Online-Inkompetenz vorhalten, wenn sie selbst nicht mal den Versuch wagen, demokratische Prozesse ins Internet zu verlagern? Mir ist das unbegreiflich.
    Sieh an, gerade hat sich der Berliner Pirat Jan Hemme auf einen Sessel schräg gegenüber im Zug gesetzt. Er sieht abgekämpft aus. Immerhin hat er nach dem gestrigen Flop seines Wirtschaftsantrags heute doch noch zwei umfangreiche, anspruchsvolle Projekte durchgebracht – eines zum Thema Transparenz und ein anderes zum Datenschutz.
    Seine Reden und Wortbeiträge gehörten zu den geschliffensten des Parteitags. Ich weiß noch, wie irritiert ich beim ersten Stammtisch-Besuch im »Kinski« über seinen Umgang mit Neulingen wie mir war. Inzwischen bin ich dankbar für jeden Profi
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