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Pilze für Madeleine

Pilze für Madeleine

Titel: Pilze für Madeleine
Autoren: Marie Hermanson
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Eichhörnchens. Ich hatte blaue Augen. »Meeresaugen«, sagte Vater verächtlich. »Du hast die Meeresaugen deiner Mutter geerbt.«
    Wie oft hatte ich vor dem Spiegel gestanden und meine unschuldigen blauen Kinderaugen verflucht, sie geschlossen und langsam wieder geöffnet, in der eitlen Hoffnung, daß sie jetzt waldbraun wären und von rätselhaftem Glanz.
    Madeleine schaute in Vaters Tieraugen, und sie muß etwas in ihnen gesehen haben, was sie zu einem Entschluß brachte, denn plötzlich lächelte sie, ein vieldeutiges Lächeln.
    »Das ist der Kurs«, sagte Vater. »Sie sind hier richtig. Bitte parken Sie Ihr Auto dort drüben. Es geht gleich los.«
    Während der Exkursion ging Madeleine ständig an Vaters Seite. Ich blieb auf meine unsichtbare Art in ihrer Nähe, lauschte ihren Gesprächen und versuchte, so viel wie möglich zu lernen.
    Vater wußte so viel über Pilze und Frauen. Er könne einen Waldchampignon von einem Wiesenchampignon und eine willige Frau von einer unwilligen auf zwanzig Meter unterscheiden, sagte er. Ich kannte mich inzwischen ein wenig mit Pilzen aus, aber über Frauen wußte ich immer noch recht wenig.
    »Ich habe so viel Gutes über Ihre Kurse gehört«, sagte Madeleine. »Ich habe gehört, daß es dabei nicht nur um Pilze geht.«
    »Bei Pilzen geht es nie nur um Pilze«, antwortete Vater. »Das ist ja das Faszinierende. Sehen Sie den Täubling da drüben?«
    Madeleine schob die Krempe des Safarihuts hoch und starrte zwischen die Tannen. Erst schaute sie nur verwirrt, dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht.
    »Ich sehe ihn, ich sehe ihn!« rief sie und wollte schon loslaufen und ihn holen, als Vater sie am Arm packte.
    »Falsch!« zischte er. »Sie sehen nicht den Täubling. Sie sehen nur einen Bruchteil vom Täubling. Der viel größere Teil des Täublings ist unter Ihren Füßen.«
    Madeleine starrte verblüfft auf ihre Wanderstiefel.
    »Da unten verzweigt sich das Myzel – kleine zarte Fäden, die tief in die Erde eindringen. Da, in der Unterwelt, lebt der Pilz gewissermaßen sein alltägliches Leben. Arbeitet, ißt, wächst. Tag für Tag, jahrelang, manchmal jahrhundertelang. Unsere überirdische Welt besucht er jedes Jahr nur für eine kurze Zeit, um sich zu vermehren. Wenn es soweit ist, wartet er, reif und bereit, und nach dem ersten Regenschauer oder einer feuchten Nacht bricht er durch die Erde, mit einer Kraft, die so stark ist, daß er Steine anheben und Asphalt durchdringen kann.«
    »Aha«, sagte Madeleine.
    »Nur hier oben können die Sporen sich lösen und vom Wind verbreitet werden. Schauen Sie hier.«
    Vater bückte sich, brach den Täubling am Fuß ab und zog Madeleine zu sich, damit sie den Pilz besser sehen konnte.
    »Hier drin«, Vater klopfte leicht auf den gelben Hut, »hier drin gibt es keine Nahrung wie in den Samen von Pflanzen. Keinen Nahrungsvorrat, mit dessen Hilfe die Pilze sich zu einem großen selbständigen Wesen entwickeln können. Der Pilz soll sich nicht entwickeln, er ist kein selbständiges Wesen. Er ist ein kleiner Teil eines größeren unsichtbaren Organismus. Hier drinnen«, er klopfte wieder auf den Hut, »sind die Sporen. «
    Väter drehte den Pilz, um Madeleine die weißen Lamellen unter dem Hut zu zeigen.
    »Nein, man kann sie nicht sehen, dafür braucht man ein Mikroskop. Aber sie sind da. Und beim kleinsten Windhauch«, er blies ein wenig Luft in Richtung von Madeleines Hals, »gibt der Pilz sie in einer leichten Wolke ab.«
    Madeleine lachte nervös.
    »Man könnte sagen, daß wir nur die Geschlechtsorgane des Pilzes sehen.«
    »Oh«, sagte Madeleine.
    »Man nennt es Fruchtkörper. «
    »Fruchtkörper«, wiederholte Madeleine langsam und schien das Wort zu kosten. »Wie hübsch das klingt.«
    Vater reichte ihr den Täubling, und sie nahm ihn vorsichtig entgegen.
    »Von uns aus betrachtet, leben die Pilze in einer verkehrten Welt«, fuhr er fort. »So wie wir Menschen bei unseren sexuellen Begegnungen für einen kurzen Moment die Unterwelt besuchen, scheinen die Pilze für ihren Sexualakt unsere Welt zu brauchen. Für sie ist die Welt hier oben vielleicht genau so geheimnisvoll und mythenreich wie die Welt da unten für uns.«
    Ich sah, wie Madeleine jede Silbe in sich aufsog. Vater hatte ganz offensichtlich ihre Erwartungen erfüllt.
    »Daran könnt ihr denken, wenn euch das Leben mal wieder trist und grau vorkommt: daß ihr in der Unterwelt, in der Welt der Pilze seid«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
    Madeleine nickte
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