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Pilze für Madeleine

Pilze für Madeleine

Titel: Pilze für Madeleine
Autoren: Marie Hermanson
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andächtig.
    Plötzlich streckte sie Vater die Hand hin und stellte sich vor. Sie erzählte, sie sei in der Nähe von Borås geboren, habe jedoch mehrere Jahre in Frankreich gelebt und einen Franzosen geheiratet. Jetzt sei sie Witwe und in ihre Heimat zurückgekehrt, um ihre Wurzeln zu suchen.
    Sie sprach schnell und war ein wenig verlegen.
    Ich betrachtete sie heimlich. Madeleine war eine sehr attraktive Frau, obwohl sie sicher auf die vierzig zuging. Sie hatte ein dreieckiges, katzenartiges Gesicht und einen breiten, wohlgeformten, eigenartig beweglichen Mund mit einem kleinen Muttermal auf der Oberlippe. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie starker Tee. Solche Frauen hatte ich bisher nur auf Bildern gesehen.
    Als Vater sich entfernte, um die Funde von anderen Kursteilnehmern zu inspizieren, schloß ich zu ihr auf, streckte die Hand aus und stellte mich vor:
    »Gunnar Haglund. Ich bin Holgers Sohn.«
    Sie sah mich zerstreut an.
    »Wirklich? Ich hätte nie gedacht, daß ihr verwandt seid.«
    Der Weg war schmal, wir gingen sehr dicht nebeneinander, und ich sah zum ersten Mal ihre Augen aus der Nähe. Ich bemerkte, daß die eigenartige Farbe durch kleine goldene Sprengsel hervorgerufen wurde. In der Iris glänzten winzige Schuppen wie aus Blattgold.
    Ich versuchte, genauso anregend über Pilze zu sprechen wie mein Vater. Aber sie nickte nur und schwang rastlos ihren roten Eimer.
    Ja, sie hatte tatsächlich einen Eimer dabei. Keinen Korb wie die anderen, sondern einen knallroten Plastikeimer. Mit Deckel! So etwas hatte ich noch nie gesehen. Wenn sie einen Pilz entdeckte, ließ sie mich einfach stehen und lief in den Wald hinein. Mit einer blitzschnellen Handbewegung packte sie den Pilz, hob den Deckel des Eimers an, warf den Pilz hinein und verschloß ihn dann wieder sorgfältig, als hätte sie Angst, der Pilz könnte ihr entwischen.
    Ich erklärte ihr, daß ihr Eimer eigentlich zum Beerenpflücken gedacht war und daß Pilze in einem luftdichten Gefäß verdarben. Beim nächsten Mal sollte sie einen Korb nehmen. Und jetzt wenigstens den Deckel abnehmen. Die Pilze würden schon nicht weglaufen.
    »Sie sind nicht lebendig«, sagte ich lachend.
    Madeleine lachte auch, ich spürte ihr Lachen wie einen kleinen Windhauch in meinem Gesicht.
    Aber kaum hatte ich meine wohlmeinenden Ratschläge ausgesprochen, da tauchte Vater an Madeleines anderer Seite auf und mischte sich in unser Gespräch.
    »Sei da mal nicht sicher«, sagte er leise. »Pilze sind ausgesprochen lebendig.«
    »Aber nicht beweglich«, wandte ich ärgerlich ein.
    Es war ein schmaler Pfad für zwei Personen, und zu dritt konnte man gar nicht nebeneinander gehen. Mir war klar, daß einer von uns zur Seite gedrückt werden würde, und ich war fest entschlossen, nicht derjenige zu sein. Ich ging mit bestimmten, konzentrierten Schritten und bemerkte plötzlich, daß ich allein war. Vater und Madeleine waren hinter mir stehengeblieben.
    Ich drehte mich um und hörte, wie Väter vom Schleimpilz erzählte. Ja, genau. Der bewegliche Schleimpilz! Wieso hatte ich nicht daran gedacht, von diesem faszinierenden Phänomen in der Welt der Pilze zu erzählen! Wie oft hatte ich Vater über den Schleimpilz reden gehört und gesehen, welche Mischung aus Angst und Begeisterung das bei seinen Zuhörerinnen hervorrief.
    Madeleine bekam große Augen, als Vater von diesem merkwürdigen Wesen erzählte, das sich gegen alle botanischen und zoologischen Prinzipien wie eine große Amöbe vorwärts bewegt, wie ein Raubtier die Sporen von anderen Pilzen verschlingt und eine Spur glänzenden Schleims hinterläßt.
    »Er hat also keinen … Fruchtkörper?« fragte Madeleine.
    »Doch«, fuhr Vater fort. »Wenn es zu trocken ist oder keine Nahrung vorhanden, dann bewegt der Schleimpilz sich nicht mehr und bildet einen Fruchtkörper. Man kann sie manchmal sehen. Der Volksmund hat magisch anmutende und merkwürdig treffende Namen für diese Fruchtkörper gefunden.«
    Vater senkte die Stimme zu einem Flüstern und sprach die Namen aus wie eine Beschwörung:
    »Hexenbutter. Wolfsblut. Drachendreck. Schon in alten Zeiten ahnte man, daß diese Organismen nicht den normalen Gesetzen der Natur gehorchten.«
    »Hexenbutter. Wolfsblut. Drachendreck«, wiederholte Madeleine mit einem leichten Zucken ihrer wohlgeformten Lippen, als ob die Namen kleine Schauer von unerwarteter Wollust in ihr auslösen würden.
    Die Zauberformel begann bereits zu wirken.
    Warum hatte Vater und nicht ich sie
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