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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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könnte der Mensch, das zumindest ist heute schon absehbar, nicht mehr zwischen sich als Schöpfer (creator) und als Geschöpf seiner eigenen Vorstellungen (creatum) unterscheiden. Aber auch in dieser vollkommenen Matrix wird das Rätsel Mensch nicht gelöst sein.

[124]
Was ist der Mensch?
    Im Rückblick auf zweieinhalbtausend Jahre Kulturgeschichte der Menschheit wird offensichtlich, dass trotz erstaunlicher Entwicklungen und verblüffender Paradigmenwechsel eines Bestand hat: Menschsein stand von Anfang an und steht auch gegenwärtig noch in der Spannung zwischen seinen körperlichen und geistigen Funktionen. Die Spannung zwischen einer naturhaften Teilhabe am Naturgeschehen und einer Befähigung zum Transzendieren dieser Begrenzung führt zu einer existenziellen Unruhe, die der Einsicht korreliert, dass Menschsein kein Zustand, sondern eine Aufgabe der Vermittlung und Bewältigung von Lebensrisiken ist. Am vorläufigen Endpunkt des sozial- und geistesgeschichtlichen Prozesses hat sich das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit, Variabilität und Pluralität aller menschlichen Selbstentwürfe in den Vordergrund geschoben. Die Emanzipation des Menschen von überlieferten Deutungsmustern seiner Existenz bestärkt den alten Menschheitstraum, die Grenzen des Physischen und Endlichen hinter sich zu lassen.
    Angesichts der Möglichkeiten, die neuere Forschungen am Menschen eröffnen, ist von einer Befreiung des Menschen von der Naturhaftigkeit seiner bisherigen Existenzweise die Rede. In der Befreiungsbewegung des »homo creator« mündet die Theorie vom Menschen in eine neue Praxis am Menschen. Von der Erkenntnis seiner selbst als Schöpfer seiner Welt führt eine Brücke zur Handlungsanweisung, sich selbst als Geschöpf seiner Vorstellungen neu zu erschaffen. Der moderne Mensch wird in einem technisch-schöpferischen Sinn zum »sui ipsius plastes et fictor«, also zum Former und Bildner seiner selbst (Pico della Mirandola).
    Auf das anthropologische Denken kommt unter diesen Bedingungen die Anforderung einer neuen Syntheseleistung [125] zu. In theoretischer Hinsicht sind die Überlegungen zum »Erkenntnisproblem Mensch« in Kulturphilosophie und -anthropologie an ein vorläufiges Ende gekommen. Es hat sich ein Perspektivenwechsel vom Erklären zum Verstehen, von der Frage nach dem Sein des Menschen zu seinem Tätigsein und zur Analyse seiner Artikulationen und Handlungen vollzogen. Insgesamt zeigt sich, dass der Blick von den metaphysischen und existenziellen Fragen, die wir Menschen uns stellen, hin zu den Antworten wandert, die wir uns auf unsere Fragen geben. Gemeint ist eine Bewegung im anthropologischen Denken, die im Verhältnis des Menschen zur Natur, Gesellschaft und Kultur an die Stelle von Substanz- und Wesensbegriffen sogenannte Funktionsbegriffe setzt, deren Bedeutung sich allein in ihrer wechselseitigen Wirkung aufeinander erschließt. Was der Mensch ist, das zeigt sich in seinem Tun und in den Produkten seines Tätigseins.
    Der Mensch, so verstanden als das »animal symbolicum« oder als der »homo creator«, der sich seiner schöpferischen Rolle bewusst wird und seine kulturellen Leistungen nicht mehr für göttliche Gabe oder natürliche Mitgift hält, löst zwar nicht das Rätsel Mensch, aber er übernimmt die Verantwortung für seine prinzipielle Unlösbarkeit. Auf diese Weise trägt er der Tatsache Rechnung, dass das Bild, das er sich von sich selbst macht, einen geschichtlichen Index hat, soziokulturell variabel ist und in Konkurrenz mit einer unbegrenzbaren Pluralität anderer Selbstbilder steht. Die Zukunft des Menschen wird offenbaren müssen, wie theoretische Einsichten und Lebenspraxis unter diesen Voraussetzungen vereinbar sein werden.
    So ist gewiss, dass die philosophische Anthropologie es weiterhin »mit dem tätigen Wesen des Menschen in seiner, ihm nicht abnehmbaren Lebensführung im Ganzen« (Krüger 2006, 17) zu tun haben wird. Daran wird auch die Erfolgsgeschichte der biologisch-technischen Forschung am Menschen nichts ändern. Zwar können wir festhalten, dass im [126] Kontext neuester Forschungen die Grenze zwischen Natur und Kultur als Orientierungsmuster bedeutungslos zu werden droht, denn die natürliche Künstlichkeit technologisch optimierter menschlicher Organismen und die künstliche Natürlichkeit organisch-technologischer Systeme stehen zweifellos diesseits und jenseits der alten Demarkationslinie. Aber das Problem des Sinnverstehens der je eigenen existenziellen
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