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Philosophenportal

Titel: Philosophenportal
Autoren: R Zimmer
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Bücher bilden hier keine Ausnahme: Auch sie sind inzwischen Produkte der Werbeindustrie.
    Doch ist es vielleicht tröstlich zu registrieren, dass ausgerechnet bei dem Buch, das viele für das wichtigste philosophische
     Werk der zweiten Hälfte des 20.   Jahrhunderts halten, alles ganz anders war.
Eine Theorie der Gerechtigkeit
des Amerikaners John Rawls trat zunächst wie ein Aschenputtel in die internationale philosophische Diskussion ein. Es erschien
     1971 im Hausverlag der renommierten Harvard-Universität in einem schlichten grünen Einband, mehrere hundert Seiten dick und
     in einem etwas trockenen und pedantischen Englisch geschrieben. Es hatte somit alle Voraussetzungen, ein akademischer Ladenhüter
     zu werden. Der Autor hasste jede Publicity, stotterte und war auf Einbanddeckeln und in Zeitungsartikeln immer mit demselben
     Bild zu sehen, das ein hageres, professorales Gesicht mit Hornbrille zeigte.
    |225| Doch zehn Jahre nach Erscheinen des Buches gab es bereits mehr als zweitausend Arbeiten, die sich mit der
Theorie der Gerechtigkeit
auseinandersetzten. Rawls’ Buch hatte sich still, aber stetig durchgesetzt. Es bestach durch seine Argumente, die ohne Wortgeklingel
     auskamen. Vor allem aber war den Lesern schnell klar geworden, dass dieses Buch auf dem Gebiet der politischen Philosophie
     eine Zäsur markierte: Hier hatte es jemand nach sehr langer Zeit wieder einmal gewagt, Grundregeln des gesellschaftlichen
     Zusammenlebens zu formulieren, die den Anspruch erhoben, für alle Kulturen und zu allen Zeiten zu gelten.
    Mit Rawls gab die moderne Philosophie auch endlich eine Antwort auf eine andere Theorie der Gerechtigkeit, die die Philosophiegeschichte
     bis in die Gegenwart hinein beeinflusst hatte: die Lehre vom idealen Staat, die Platon im 4. vorchristlichen Jahrhundert aufgestellt
     hatte. Dem platonischen Gerechtigkeitsgrundsatz »Jedem das Seine«, der Grundlage einer streng gegliederten Drei-Klassen-Gesellschaft
     war, setzte Rawls seine Forderung nach einer »Gerechtigkeit als Fairness« entgegen. Rawls ging es nicht mehr wie Platon um
     die Stabilität eines Staates, der sich vor den Ansprüchen des Volkes schützen muss. Er wollte vielmehr nachweisen, dass es
     berechtigte Ansprüche des Bürgers gibt, die sich in unverlierbaren Rechten ausdrücken. Die liberalen Prinzipien der westlichen
     Demokratie sollten mit den Errungenschaften des Sozialstaats verbunden werden.
    Rawls fordert uns auf, die Gesellschaft als einen alle Bürger umfassenden Sozialpakt zu verstehen, der auf dem Grundsatz des
     Fair Play beruht. Mit seiner neuen Form der Vertragstheorie wurde er der einflussreichste Philosoph der Menschenrechte und
     der sozialen Demokratie im 20.   Jahrhundert. Die
Theorie der Gerechtigkeit
gibt dem in der Aufklärung entstandenen Gerechtigkeitsempfinden, das sich in den berühmten Forderungen nach Freiheit, Gleichheit
     und Brüderlichkeit ausdrückte, ein neues theoretisches Gesicht.
    Die liberale Überzeugung von der Unverlierbarkeit menschlicher Grundrechte ist von jeher tief in der amerikanischen politischen
     Kultur verwurzelt. John Rawls wuchs aber auch in einem Umfeld auf, das von einem religiös begründeten, starken Glauben an
     das |226| Gute im Menschen und an die Möglichkeit einer gerechten Welt geprägt war. Im Leben des zweiten von fünf Söhnen einer wohlhabenden
     Familie in Baltimore im U S-Staat Maryland waren Fragen der Weltanschauung und Politik schon früh aufgetreten. Beide Eltern engagierten sich im Dienst der
     Bürgerrechte. Rawls’ Mutter trat in der Frauenrechtsbewegung hervor, sein Vater, ein bekannter Rechtsanwalt, war ein Parteigänger
     der Demokraten und enger Vertrauter des Gouverneurs von Maryland. Hier, an der Grenze zu den alten Südstaaten, war auch die
     Erinnerung an den Bürgerkrieg von 1861 bis 1865, in dem die Nordstaaten unter Führung ihres Präsidenten Abraham Lincoln für
     die Abschaffung der Sklaverei gekämpft hatten, noch lebendig geblieben. Lincoln, der politische Vorkämpfer für Bürgerrechte,
     blieb für Rawls bis an sein Lebensende ein Vorbild. So genannte »natürliche« Ungleichheiten aufgrund von Rasse, Herkunft,
     Religion oder anderem hat Rawls nie akzeptiert. Und obwohl er selbst an Privatschulen und Eliteuniversitäten eine hervorragende
     Ausbildung genossen hatte, war er für das Problem der Gerechtigkeit und der Verteilung gesellschaftlicher Privilegien höchst
     sensibilisiert.
    Auch für ihn wurde der Zweite Weltkrieg
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