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Phantom

Phantom

Titel: Phantom
Autoren: Patricia Cornwell
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Sie empfinden, wenn man die Mistkerle faßte, die an Marks Tod schuld sind?« Er mußte mir ansehen, daß ich darüber nicht nachdenken wollte, aber er ließ nicht locker. »Hätten Sie nicht den Wunsch, die Typen hängen zu sehen? Würden Sie sich nicht freiwillig zu dem Erschießungskommando melden, um selbst abzudrücken?«
    Mark starb, als vor der Londoner Victoria Station in einem Papierkorb eine Bombe explodierte. Den Haß, der mit der Trauer einherging, hatte ich nur in den Griff bekommen können, indem ich mir klarmachte, daß ich keine Chance hatte, Rache zu üben.
    »Eine Terroristengruppe bestrafen zu wollen, ist ein unrealistischer Wunsch – und deshalb befasse ich mich nicht damit.«
    Marino sah mich böse an. »Das ist mal wieder eine von Ihren berühmten beschissenen Antworten! Wenn Sie könnten, würden Sie die Kerle unentgeltlich obduzieren – bei lebendigem Leibe – und sich viel Zeit dabei lassen. Habe ich Ihnen je erzählt, was aus Robyn Naismiths Familie wurde?«
    Ich schüttelte den Kopf und griff nach meinem Glas.
    »Ihr Vater war Arzt in North Virginia. Ein feiner Mensch. Etwa ein halbes Jahr nach dem Prozeß stellte man Krebs bei ihm fest, und ein paar Monate später war er tot. Die Mutter zog nach Texas, hatte einen Autounfall und verbringt den Rest ihrer Tage im Rollstuhl. Waddell hat nicht nur Robyn umgebracht – er hat auch ihre Eltern auf dem Gewissen.«
    Ich sah davon ab, ihn darauf hinzuweisen, daß er mit dieser Behauptung weit übers Ziel hinausschoß; er hätte es sicherlich als Verteidigung des Mörders aufgefaßt. Ich dachte an Waddell, der auf einer Farm aufgewachsen war, und Bilder aus seinen abgedruckten »Gedanken« erschienen vor meinem geistigen Auge. Ich stellte ihn mir vor, wie er auf der Verandatreppe saß und in eine Tomate biß, die nach Sonne schmeckte. Was mochte ihm in den letzten Sekunden seines Lebens durch den Kopf gegangen sein? Ob er gebetet hatte?
    Marino drückte mit unnötiger Brutalität seine Zigarette aus.
    »Ich mach’ mich auf den Weg.«
    »Kennen Sie Detective Trent in Henrico?« fragte ich.
    »Ja. War früher bei K9 und wurde nach seiner Beförderung zum Sergeant vor ein paar Monaten zur Detective Division versetzt. Ein Nervösling, aber okay.«
    »Er rief an wegen eines Jungen…«
    »Eddie Heath?« unterbrach er mich.
    »Ich weiß den Namen nicht.«
    »Ein dreizehnjähriger Weißer. Wir arbeiten daran. Lucky’s liegt in meinem Zuständigkeitsbereich.«
    »Lucky’s?«
    »Der Supermarkt, wo er zuletzt lebend gesehen wurde – hinter der Chamberlayne Avenue, auf der Northside. Was wollte Trent?« Marino runzelte die Stirn. »Hat er erfahren, daß Eddie es nicht schaffen wird, und im voraus eine Verabredung mit Ihnen getroffen?«
    »Er sagte, der Junge habe ungewöhnliche Verletzungen, und bat mich, sie mir anzusehen.«
    »Mannomann, ich hasse es, wenn Kinder dran glauben müssen.«
    Marino stieß seinen Stuhl zurück und rieb sich die Schläfen. »Was für ein Scheißjob! Jedesmal, wenn man einen Killer aus dem Weg geräumt hat, kommt der nächste daher.«
    Als Marino gegangen war, setzte ich mich im Wohnzimmer an den Kamin und sah dem Holz zu, wie es verbrannte. Eine dumpfe Traurigkeit legte sich auf mich wie ein schwarzes Tuch. Marks Tod hatte eine Narbe auf meiner Seele hinterlassen. Als er noch lebte, war mir gar nicht bewußt gewesen, was für einen großen Raum die Liebe zu ihm in meinem Denken und Fühlen einnahm.
    Das letzte Mal trafen wir uns vor seinem Abflug nach London zu einem eiligen Mittagessen in der Innenstadt, bevor er zum Dulles Airport hinausfuhr. Immer wieder schauten wir in dieser halben Stunde auf die Uhr, denn wir hatten uns die Zeit mühsam abgezwickt und konnten sie deshalb überhaupt nicht genießen. Gewitterwolken ballten sich zusammen, und als wir auf die Straße traten, fielen die ersten dicken Regentropfen. Mark hatte sich beim Rasieren geschnitten, und wenn ich mir später sein Gesicht ins Gedächtnis rief, sah ich immer diese kleine Wunde an seinem Kinn – und brach jedesmal in Tränen aus.
    Er starb im Februar, als der Golfkrieg zu Ende ging. Um wenigstens einem Teil der Erinnerung zu entfliehen, verkaufte ich mein Haus und zog in ein anderes Viertel – doch ich erreichte mit diesem Gewaltakt lediglich, daß ich mich entwurzelt fühlte. Das neue Haus einzurichten und den Garten umzugestalten, machte mir keine Freude, aber es lenkte mich wenigstens ab. Ich packte meine sehr begrenzte Freizeit randvoll mit
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