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Phantom

Phantom

Titel: Phantom
Autoren: Patricia Cornwell
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Patienten, deren Zustand kritisch ist, werden nicht gründlich gewaschen. Trent verkrampfte sich merklich, als die Schwester die Kompressen von den Wunden entfernte. »Großer Gott!« murmelte er. »Das sieht ja noch schlimmer aus als gestern abend. Jesus!« Er schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.
    Wenn mir jemand gesagt hätte, der Junge sei von einem Hai angegriffen worden, hätte ich es geglaubt – wären nicht die Wundränder gewesen: Sie zeigten eindeutig, daß das Fleisch aus der Schulter und der Innenseite des Schenkels mit einer glatten Klinge – einem Rasiermesser etwa – herausgeschnitten worden war. Ich öffnete meine Instrumententasche, holte ein Lineal heraus und vermaß die Verletzungen, ohne sie zu berühren. Dann machte ich Fotos.
    »Sehen Sie die Kratzer und Schnitte an den Rändern?« Trent war wieder ans Bett getreten und deutete darauf. »Es sieht aus, als habe der Täter ein Muster in die Haut geritzt und das Ganze dann entfernt.«
    »Haben Sie am Anus Verletzungen festgestellt?« fragte ich die Schwester.
    »Beim Messen der Rektaltemperatur sind mir keine aufgefallen – und beim Intubieren wurde auch in Mund und Rachen nichts Ungewöhnliches festgestellt«, nahm sie die Beantwortung meiner nächsten Frage vorweg.
    »Vielleicht befanden sich Tätowierungen an den fraglichen Stellen«, überlegte ich laut. »Oder Muttermale oder Narben.«
    »Ich gehe die Eltern fragen«, erbot sich Trent. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
    »Sie werden in der Cafeteria sein«, vermutete ich.
    »Ich finde sie schon.« Er verschwand.
    Ich wandte mich an die Schwester: »Was sagen die Ärzte?«
    »Der Zustand des Jungen ist kritisch, und er spricht auf keine Therapiemaßnahme an«, konstatierte sie ohne erkennbare Emotion.
    »Darf ich sehen, wo die Kugel eindrang?«
    Sie lockerte den Rand des Kopfverbandes und schob ihn nach oben, bis das kleine Loch mit dem versengten Rand sichtbar wurde. Der Schußkanal verlief von der rechten Schläfe nach vorne.
    »Durch den Stirnlappen?« fragte ich.
    »Ja.«
    »Wurde ein Angiogramm gemacht?«
    »Aufgrund der Schwellung ist das Gehirn nicht durchblutet. Es besteht keine elektroenzephalitische Aktivität, und als wir kaltes Wasser in die Ohren laufen ließen, wurde keine kalorische Aktivität ausgelöst. Das Gehirn reagierte nicht.« Mit gleichgültiger Stimme leierte sie weitere Versuche herunter, intracranialen Druck zu erzeugen.
    Ich forschte nun nach Verletzungen, die darauf hindeuteten, daß er sich gewehrt hatte. Als ich vorsichtig, um nicht an die Infusionsnadeln zu kommen, seine rechte Hand untersuchte, schlossen sich seine Finger plötzlich um meine. Eine solche Reflexbewegung ist bei Hirntoten nichts Ungewöhnliches und kommt der eines Babys gleich, das einen hingehaltene n Finger festhält. Reflexe funktionieren, ohne einen Denkpro z eß vorauszusetzen.
    In den vielen Stunden, die ich früher in Notoperationsräumen und auf Intensivstationen zugebracht hatte, machte ich die Erfahrung, daß es leichter fiel, Patienten gegenüber neutral zu bleiben, die bereits bewußtlos eingeliefert wurden. Doch obwohl dieser Junge hier nie mehr aufwachen würde und das, was seine Persönlichkeit ausmachte, zerstört war, rührte er an mein Herz. Ich legte seine Hand behutsam auf die Decke und drängte die Tränen zurück.
    Die Schwester rückte den Verband an seinen Platz, legte frische Kompressen auf die Wunden und deckte den Jungen wieder zu. Ich zog die Handschuhe aus und ließ sie gerade in den Mülleimer fallen, als Trent zurückkam.
    »Keine Tätowierungen«, berichtete er atemlos, als sei er von der Cafeteria herübergesprintet »Keine Muttermale und auch keine Narben.«
    Wir bedankten uns bei der Oberschwester und verließen das Emergency Center. Die Sonne spähte zwischen dunklen Wolken hindurch, der Wind trieb winzige Schneeflocken vor sich her, und viele Autos auf der belebten Forest Avenue waren weihnachtlich geschmückt.
    »Wie es aussieht, wird der Junge sterben«, sagte ich zu Trent, der neben mir vor dem Eingang stand.
    »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich Sie nicht behelligt. Verdammt, ist das kalt!«
    »Sie haben genau das Richtige getan: In ein paar Tagen sehen die Wunden ganz anders aus.«
    »Angeblich soll es den ganzen Dezember so bleiben: eisig und viel Schnee. Haben Sie Kinder?«
    »Nein. Eine Nichte.«
    »Ich habe zwei Jungs. Einer ist dreizehn.«
    Ich zog meine Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich stehe gleich da hinten«,
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