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Phantom

Phantom

Titel: Phantom
Autoren: Patricia Cornwell
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die jetzt meine Welt sind. Was für Gedanken soll ein Mann kurz vor seinem Tod haben?
    In mir ist ein trauriges, trauriges Lied. Ich kenne den Text nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Sie sagen, es passierte im September, als der Himmel aussah wie ein Wanderdrosselei und die Blätter in Flammen standen und zu Boden fie l en. Sie sagen, ein wildes Tier geht in der Stadt um. Jetzt gibt es ein schlagendes Herz weniger.
    Mich zu töten bedeutet nicht, das Tier zu töten. Die Dunkelheit ist sein Freund, Fleisch und Blut sind sein Festmahl. Wenn du glaubst, die Gefahr ist vorüber, dann irrst du dich.
    Sei auf der Hut, Bruder!
    Eine Sünde führt zur anderen.
    Ronnie Joe Waddell

1
    An jenem Montag, an dem Ronnie Joe Waddells »Ge danken« in meiner Handtasche steckten, sah ich kein Tageslicht. Es war noch dunkel gewesen, als ich morgens zur Arbeit fuhr, und es war schon wieder dunkel, als ich mich abends auf den Heimweg machte. Regentropfen blitzten im Scheinwerferlicht, und die Nacht war neblig und bitter kalt.
    Während ich in meinem Wohnzimmerkamin Feuer machte, stellte ich mir Felder vor, auf denen Tomaten reiften, und einen jungen Schwarzen in dem stickigen Führerhaus eines Pick-up-Trucks. Ob er schon damals Mordgedanken hatte?
    Waddells »Gedanken« waren im »Richmond Times-Dispatch« abgedruckt worden, und ich hatte den Zeitungsausschnitt ins Büro mitgenommen, um ihn seiner ständig wachsenden Akte beizufügen, doch vor lauter Arbeit vergaß ich es, und so blieb der Ausschnitt in meiner Handtasche. Ich hatte ihn beim Frühstück gelesen und wieder einmal verblüfft vor dem Phänomen gestanden, daß in einem Menschen gleichzeitig Poesie und Grausamkeit wohnen konnten. Zudem war die Ausdrucksweise für einen so einfachen Mann höchst ungewöhnlich.
    In den nächsten Stunden füllte ich Überweisungsformulare aus und schrieb Weihnachtskarten, während leise der Fernseher lief. Wie alle anderen Bürger Virginias konnte auch ich nur aus den Medien erfahren, ob im Zusammenhang mit einer Hinrichtung alle Appelle fehlgeschlagen waren oder der Gouverneur eine Begnadigung aussprach. Die Nachrichten würden darüber entscheiden, ob ich zu Bett gehen durfte oder zum Leichenschauhaus fahren mußte.
    Es war kurz vor zehn, als das Telefon klingelte. Ich erwartete meinen Stellvertreter oder einen anderen Angehörigen meines Stabes am anderen Ende der Leitung, der wie ich abrufbereit dasaß.
    »Hallo«, sagte eine mir unbekannte männliche Stimme. »Ich möchte Kay Scarpetta sprechen, die amtliche Leichenbeschauerin Dr. Scarpetta.«
    »Am Apparat«, sagte ich.
    »Oh, sehr gut. Hier spricht Detective Trent aus Henrico. Ich habe Ihre Nummer aus dem Telefonbuch. Tut mir leid, Sie zu Hause zu stören.« Er klang angespannt. »Wir haben hier einen Fall, bei dem wir Ihre Hilfe brauchen.«
    »Worum geht’s denn?« Hoffentlich muß ich nicht aus dem Haus, dachte ich und schaute auf den Bildschirm.
    »Heute abend wurde ein Dreizehnjähriger nach dem Verlassen eines Supermarkts auf der Northside entführt. Er wurde in den Kopf geschossen, vielleicht auch mißbraucht.«
    Gottergeben griff ich zu Papier und Kugelschreiber. »Wo ist die Leiche?«
    »Der Junge wurde hinter einem leerstehenden Lebensmittelgeschäft an der Patterson Avenue gefunden. Er ist nicht to t – er ist bewußtlos. Die Ärzte wissen nicht, ob er durchkommen wird. Es ist mir klar, daß Sie nicht zuständig sind, er lebt ja noch, aber er hat ein paar wirklich merkwürdige Verletzungen. Sie sehen doch tagein, tagaus alles mögliche, und da dachte ich, daß Sie vielleicht eine Idee hätten, wo sie herrühren könnten. Mir ist so was noch nie untergekommen.«
    »Beschreiben Sie sie mir!« bat ich.
    »Es geht um zwei Stellen: eine an der Innenseite des rechten Oberschenkels, fast am Ansatz, und die andere an der rechten Schulter. Es fehlen ganze Fleischstücke – rausgeschnitten. Und an den Wundrändern sind Kratzer und Schnitte. Das Opfer liegt hier in Henrico im Krankenhaus.«
    »Haben Sie das entfernte Gewebe gefunden?« Mein Gedächtnis raste auf der Suche nach ähnlichen Fällen.
    »Bisher nicht. Aber es sind noch Kollegen dort, die das Gelände absuchen. Allerdings ist es auch möglich, daß die Tat in einem Wagen verübt wurde.«
    »In wessen Wagen?«
    »In dem des Täters. Der Fundort liegt gut vier Meilen von dem Supermarkt entfernt, in dem der Junge zuletzt gesehen wurde. Ich denke, er stieg zu jemandem ins Auto, wurde vielleicht dazu gezwungen.«
    »Haben Sie
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