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Phantom

Phantom

Titel: Phantom
Autoren: Patricia Cornwell
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die Verletzungen fotografiert, bevor die Ärzte mit der Behandlung begannen?«
    »Ja. Aber sie haben nicht viel gemacht: Weil so viel Haut fehlt, werden sie welche transplantieren müssen.«
    Demnach waren die Wunden nur gereinigt und eine Antibiotikainfusion gelegt worden. Hätten sie sie genäht, wäre eine Begutachtung meinerseits nicht sehr ergiebig gewesen.
    »Gut, ich werde mir den Jungen ansehen.«
    »Großartig! Und wann?«
    »Morgen. Je eher, desto besser.«
    »Um acht? Ich warte vor der Klinik auf Sie.«
    »Okay.«
    Als der Nachrichtensprecher auf dem Bildschirm erschien, griff ich zur Fernbedienung und machte den Ton lauter: »… Eugenia? Können Sie uns sagen, ob der Gouverneur sich schon geäußert hat?«
    Das Staatsgefängnis von Virginia, an einem felsigen Uferstück des James River am Rande der Innenstadt gelegen, kam ins Bild. Zweihundertjahre lang hatten dort die Schwerverbrecher gesessen. Jetzt stand seine Schließung bevor. Gegner und Befürworter der Todesstrafe hatten sich mit entsprechend beschrifteten Plakaten vor dem Eingang versammelt. Ihre Gesichter leuchteten im Scheinwerferlicht kalkweiß. Ein Schauder überlief mich, als ich sah, daß einige Leute lachten.
    Die Kamera schwenkte auf eine hübsche junge Reporterin in einem roten Mantel. »Wie Sie wissen, Bill«, sagte sie, »wurde gestern eine Direktleitung zwischen dem Büro von Gouverneur Norring und dem Staatsgefängnis eingerichtet. Bislang ist sie ungenutzt geblieben, und das spricht Bände: Würde er eine Begnadigung aussprechen wollen, hätte er es bereits getan.«
    »Und wie ist die Stimmung bei Ihnen?«
    »Bis jetzt ist alles ruhig. Ich schätze, daß mehrere hundert Menschen hier sind, aber es sieht nicht so aus, als wollten sie Ärger machen. Und auch im Gefängnis ist kein Aufruhr zu erwarten, bis auf ein paar Dutzend Insassen sind ja schon alle in die neue Vollzugsanstalt in Greensville verlegt worden.«
    Ich schaltete den Fernseher ab und fuhr kurz danach los. Müdigkeit durchströmte mich wie ein Betäubungsmittel. Ich fühlte mich niedergeschlagen und benommen. Ich hasse Hinrichtungen. Ich hasse es, darauf zu warten, daß jemand stirbt, um mein Skalpell in Fleisch zu senken, das noch so warm ist wie meines. Bei einer amtlich bestellten Leichenbeschauerin könnte man meinen, daß all das Schreckliche, das sie im Laufe der Jahre gesehen hat, zu einer Abstumpfung führt, und doch erfüllt es mich immer wieder mit Entsetzen, wozu Menschen fähig sind. Ich verabscheue Klischees – aber ich muß zugeben, daß einige durchaus zutreffen. Eines lautet: Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt. Nichts wird jemals wiedergutmachen, was Ronnie Joe Waddell getan hat. Er wartete bereits seit neun Jahren auf seine Hinrichtung. Ich hatte sein Opfer nicht auf den Tisch bekommen, denn die Frau war ermordet worden, bevor ich zum Chief Medical Examiner des Staates Virginia berufen wurde und nach Richmond zog. Doch hatte ich mich eingehend mit dem Fall befaßt, kannte jedes grauenhafte Detail. Am Morgen des 4. September vor zehn Jahren meldete Robyn Naismith sich bei Channel 8, wo sie als Moderatorin arbeitete, krank. Sie verließ ihr Haus nur kurz, um sich Grippemedikamente zu besorgen. Am nächsten Tag wurde ihre Leiche nackt und mißhandelt im Wohnzimmer gefunden, in sitzender Stellung an den Fernseher gelehnt. Ein blutiger Daumenabdruck, am Medizinschränkchen im Bad hinterlassen, wurde später als der Ronnie Joe Waddells identifiziert.
    Als ich in den Parkplatz einbog, standen bereits mehrere Wagen dort: Fielding, mein Stellvertreter, war da, mein Verwaltungsmann Ben Stevens und meine Assistentin Susan Story. Die Hoftür stand offen, bleiches Licht fiel auf den Asphalt nach draußen. Ein Stadtpolizist saß rauchend in seinem Dienstwagen. Als er mich einparken sah, stieg er aus und kam zu mir. Er war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit einer weißen Mähne. Obwohl ich schon oft mit ihm gesprochen hatte, fiel mir im Moment sein Name nicht ein.
    »Können wir die Tür zum Hof offenlassen?« fragte ich ihn.
    »Vorerst bestimmt, Dr. Scarpetta«, sagte er und zog den Reißverschluß seines Nylonanoraks bis zum Kinn hoch.
    »Meinen Sie, daß es Randale geben wird?«
    »Wir sind für alles gerüstet, Ma’am. Sobald der Wagen sich vor dem Gefängnis in Bewegung setzt, werden wir hier Aufstellung nehmen. Offenbar sind viele mit der Hinrichtung nicht einverstanden. Sie haben sicher von der Petition gelesen, die dem Gouverneur übergeben wurde –
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