Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantom

Phantom

Titel: Phantom
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
verblüfft. »Im Krankenwagen?« Als er in die Ambulanz geschoben wurde, hätte Waddell keinen Blutdruck mehr haben dürfen.
    Der Beamte hatte mir seine Aufmerksamkeit bereits entzogen und antwortete nicht. Ich würde warten müssen. Ich ließ die Leiche auf die Rollbahre heben, die auf der Waage bereitstand. Geschäftige Hände lösten die Haltegurte und öffneten das Laken. Die Türen des Autopsieraumes schlossen sich leise, als die Gefängnisbeamten ebenso grußlos verschwanden, wie sie gekommen waren.
    Waddell war seit genau zweiundzwanzig Minuten tot. Ich roch seinen Schweiß und schwach das versengte Fleisch. Das rechte Hosenbein war bis über das Knie hochgeschoben, die Brandstellen an der Wade hatte man mit Mullkompressen bedeckt. Er war ein großer, kräftiger Mann. Die Zeitungen hatten ihn als »sanften Riesen« bezeichnet, als den »romantischen Ronnie mit dem seelenvollen Blick«, doch hatten ihm diese großen Hände, die starken Schultern und muskulösen Arme dazu gedient, einem Menschen den Garaus zu machen.
    Ich öffnete die Klettverschlüsse seines hellblauen Jeanshemdes und durchforstete, als ich ihn auszog, seine Taschen – eine für gewöhnlich fruchtlose Prozedur, da Todeskandidaten nichts auf den elektrischen Stuhl mitnehmen dürfen. Entsprechend überrascht war ich, als ich ein Kuvert in der Gesäßtasche der Hose fand. Es war zugeklebt, und in großen Druckbuchstaben stand darauf.
    STRENG VERTRAULICH: BITTE MIT MIR BEGRABEN!
    »Machen Sie eine Kopie von dem Umschlag und von was immer er enthält, und legen Sie die Originale zu seinen persönlichen Dingen!« Ich gab Fielding den Fund. Er klemmte das Kuvert unter das Autopsieprotokollformular in sein Clipboard und murmelte: »Mein Gott, der hat ja mehr Muskeln als ich!«
    »Kaum zu glauben, was?« verspottete Susan meinen bodybuildenden Stellvertreter.
    Wir schafften es zu dritt nur mit Mühe, den Toten mit dem Gesicht nach unten auf den Autopsietisch umzubetten. Er wog zweihundertdreiunddreißig Pfund. Seine Füße ragten über den Tisch hinaus. Ich vermaß gerade die Brandstellen an seinem Bein, als der Summer der Tür zum Hof ertönte. Susan ging nachsehen und kam gleich darauf mit Lieutenant Pete Marino zurück. Sein Trenchcoat stand offen, und das Gürtelende schleifte über den Fliesenboden.
    Ich diktierte Fielding die Maße der Verbrennung auf der Rückseite der Wade und setzte hinzu: »Die Haut ist trocken, zusammengezogen und blasig.«
    Marino zündete sich eine Zigarette an. »Es gibt Theater wegen der Blutung«, sagte er.
    »Seine Rektaltemperatur beträgt vierzig Grad«, las Susan vom Thermometer ab. »Um dreiundzwanzig Uhr neunundvierzig.«
    »Wissen Sie, warum er blutete?« fragte Marino mich.
    »Einer der Gefängnisbeamten sagte, Waddell habe Nasenbluten gehabt. Los, alle mit anfassen, wir müssen ihn umdrehen!«
    »Haben Sie die Stelle an der Innenseite des linken Arms gesehen?« Susan zeigte mir eine Abschürfung.
    Ich untersuchte sie unter Zuhilfenahme einer starken Lampe und einer Lupe. »Stammt vielleicht von einem der Gurte.«
    »Am rechten Arm ist noch eine.«
    Ich sah mir auch diese Stelle an. Dann drehten wir den Leichnam um, und als das geschafft war, schoben wir einen Holzklotz unter seine Schultern. Kopf und Gesicht waren nachlässig rasiert worden. Ich nahm den Y-Einschnitt vor.
    Susan sah sich die Zunge an. »Da könnten ein paar Verletzungen sein«, meinte sie.
    »Schneiden Sie sie raus«, sagte ich und steckte das Thermometer in die Leber.
    »Grundgütiger!« murmelte Marino und schüttelte sich.
    »Jetzt gleich?« Susan hielt das Skalpell schnittbereit.
    »Nein. Fotografieren Sie zuerst die Brandstellen am Kopf! Wir müssen sie vermessen. Dann können Sie die Zunge entfernen.«
    »Mist!« schimpfte Susan. »Es ist kein Film da!«
    »Tut mir leid«, sagte Fielding, »ich habe vergessen, Bescheid zu sagen, daß keiner mehr da ist. Aber abgesehen davon ist es Ihre Aufgabe, sich regelmäßig zu vergewissern, ob noch Filme in der Schublade sind.«
    Susan würdigte ihn keiner Antwort, machte sich ans Vermessen, diktierte ihm die Ergebnisse und widmete sich dann der Zunge.
    Marino wandte sich schaudernd ab.
    »Die Lebertemperatur beträgt vierzig Komma fünf Grad«, gab ich Fielding zu Protokoll und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand: Waddell war inzwischen seit einer Stunde tot, aber kaum abgekühlt: Die Hinrichtung durch den elektrischen Stuhl heizt den Körper stark auf. Die Gehirntemperatur von schmächtigeren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher