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Phantom

Phantom

Titel: Phantom
Autoren: Patricia Cornwell
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– und Marino war offensichtlich nicht gewillt, es mir leicht zu machen. Sein Gesicht war gerötet, an seiner kahl werdenden Stirn klebten graue Strähnen, und er rauchte eine Zigarette nach der anderen.
    »Haben Sie schon mal eine Hinrichtung miterlebt?« wagte ich einen Vorstoß.
    »Bin nie scharf drauf gewesen.«
    »Aber diesmal haben Sie sich freiwillig gemeldet.«
    »Wenn ich ein bißchen Zitrone und Soda zu diesem Gesöff haben könnte, wäre es nicht mehr ganz so übel.«
    »Wenn Sie darauf bestehen, einen guten Scotch zu ruinieren…« Ich stand auf.
    Er ließ das Glas über den Küchentisch in meine Richtung schlittern, und ich nahm es mit zum Kühlschrank. »Ich habe Limonensaft, aber keine Zitronen«, teilte ich ihm nach einer Inspektion der Vorräte mit.
    »Der tut’s auch.«
    Ich ließ Limonensaft in sein Glas tröpfeln und füllte es mit Schweppes auf.
    Er nippte an der merkwürdigen Mischung und sagte: »Vielleicht haben Sie es vergessen, aber der Naismith-Fall unterstand damals mir. Mir und Sonny Jones.«
    »Da war ich noch nicht hier.«
    »Stimmt. Komisch – es kommt mir vor, als wären Sie schon immer hier. Aber Sie wissen, was passiert ist, oder?«
    Als Robyn Naismith umgebracht wurde, war ich stellvertretende Leichenbeschauerin in Dade County, aber ich hatte den Fall in den Medien verfolgt und später auf einer Fachtagung Dias von der Leiche gesehen. Die ehemalige Miss Virginia war eine aufsehenerregende Schönheit mit einer herrlichen Altstimme gewesen – redegewandt und charismatisch. Sie wurde nur siebenundzwanzig Jahre alt.
    Die Verteidigung behauptete, Ronnie Waddell habe nur etwas stehlen wollen. Es sei Miss Naismiths Pech gewesen, daß sie ihn bei ihrer Rückkehr aus dem Drugstore überraschte. Waddell habe niemals ferngesehen und nicht einmal ihren Namen gekannt. Er sei so high gewesen, daß er nicht wußte, was er tat. Die Geschworenen lehnten den Unzurechnungsfähigkeitsantrag jedoch ab und forderten die Todesstrafe.
    »Bis Waddell gefaßt wurde, hatte die Öffentlichkeit die Polizei ganz schön unter Druck gesetzt«, erinnerte ich mich.
    »Das kann man wohl sagen.« Marino nickte. »Wir hatten diesen fabelhaften Daumenabdruck und Zahnspuren. Drei von unseren Jungs wälzten von morgens bis nachts einschlägiges Material, und ich weiß nicht, wieviel Zeit ich in die verdammte Geschichte steckte. Und dann schnappen wir den Kerl, weil er mit einer abgelaufenen TÜV-Plakette in North Carolina rumfährt!« Seine Miene verfinsterte sich. »Natürlich war Jones nicht dabei. Ein Jammer, daß er nicht mehr erleben konnte, wie Waddell seine Belohnung bekam.«
    »Sie geben Waddell die Schuld an Sonnys Tod?«
    »Allerdings.«
    »Sie beide waren eng befreundet, nicht wahr?«
    »Wir waren Kollegen beim Morddezernat, wir gingen zusammen fischen, und wir waren in derselben Bowlingmannschaft.«
    »Ich kann mir vorstellen, daß sein Tod Sie hart getroffe n hat.«
    »Dieser Fall schaffte ihn: immer nur arbeiten, kein Schlaf, nie zu Hause, die Sache mit seiner Frau… Er sagte immer wieder, er könne nicht mehr – und dann steckte er sich eines Tages den Pistolenlauf in den Mund.«
    »Eine schlimme Geschichte«, sagte ich sanft, »aber ich bezweifle, daß Waddell dafür verantwortlich war.«
    »Ich sehe es aber so – und deshalb hatte ich eine Rechnung mit ihm zu begleichen.«
    »Und – ist sie nun beglichen, nachdem Sie ihn sterben sahen?«
    Marino starrte schweigend ins Leere. Seine Kiefermuskeln spielten. Schließlich trank er sein Glas aus und zog an seiner Zigarette.
    »Darf ich Ihnen noch einen Drink machen?« fragte ich. »Ja, warum nicht?«
    Ich fabrizierte wieder die spezielle Mischung und mußte an die Ungerechtigkeiten und Verluste denken, die Marino erlitten hatte. Er war im falschen Teil von New Jersey als armer Leute Kind ungeliebt aufgewachsen und hegte ein tiefes Mißtrauen gegen jeden Menschen, der es besser getroffen hatte als er. Vor kurzem hatte ihn nach dreißig Jahren Ehe seine Frau verlassen. Er hatte einen Sohn, über den er niemals sprach. Ungeachtet seiner nachweislich ausgezeichneten Arbeit stand er mit seinem Beruf ständig auf Kriegsfuß. Das Schicksal hatte einen mühsamen Weg für ihn vorgesehen, und ich fürchtete, daß er am Ende nicht Weisheit und Frieden zu finden hoffte, sondern Vergeltung und Wiedergutmachung. Marino war immer über irgend etwas wütend. »Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen, Doc«, sagte er, als ich das Glas vor ihn hinstellte. »Was würden
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