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Phantom der Lüste

Phantom der Lüste

Titel: Phantom der Lüste
Autoren: Hanna Nowak
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Augenblick vergaß er sein Unglück.
    „Danke“, flüsterte er, gerührt von Enjolras Mitgefühl für ihn, der er doch ein völlig Fremder war.
    „Du hast einen großen Schreck erlitten. Es ist nur natürlich, dass du verwirrt bist. Dennoch musst du Geduld haben.“
    Langsam ließ der Fremde von ihm ab und Jean sank auf das Kissen zurück. Ein feuchtes Tuch legte sich auf seine Wangen. Es fühlte sich gut an, kühlte sein erhitztes Gemüt ab, und trotz seiner scheinbar ausweglosen Situation, fühlte er sich auf eine seltsame Weise geborgen, in der Nähe dieses unbekannten Mannes, von dem er nur wusste, wie seine Stimme klang.
    „Du hattest Glück im Unglück, Jean, ich hoffe, du weißt das. Bei diesem Sturz hättest du dir auch das Genick brechen können.“
    Jean schluckte. Soweit hatte er nicht gedacht. Schlimmer, als nichts mehr zu sehen, war nichts mehr zu fühlen.
    „Gib dir Zeit. Die Schwellungen werden zurückgehen.“
    „Aber was ist … wenn ich …“ Jean wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen, geschweige denn, ihn auszusprechen. Was, wenn er dann noch immer nicht sehen konnte? Wenn sein Kopf so schwer verletzt war, dass sein Augenlicht niemals mehr zurückkehrte? Erneut wurden seine Augen feucht. Da umschloss Enjolras’ kräftige Hand die seine und Jean war erneut dankbar dafür, dass der Fremde ihm Halt gab.
    „Ich hörte einst von einem ähnlichen Fall. Ein Junge fiel mit dem Kopf auf einen Stein und verlor sein Augenlicht. Niemand glaubte, dass er jemals wieder würde sehen können. Aber nach einigen Wochen erkannte er die ersten Farben und wenig später kehrte sein Augenlicht vollständig zurück. Die Leute sprachen von einem Wunder.“
    Enjolras strich ihm eine Strähne aus der Stirn und Jean atmete tief durch. „Ist das wahr?“, fragte er und seine Stimme klang heiser. Das klang unglaublich. Wie ein Märchen. „Oder erzählst du mir das nur, um mich zu trösten?“
    Enjolras lachte leise. „Es ist die Wahrheit. Ich habe es selbst erlebt. Der Junge war mein Patient.“
    „Du bist Arzt?“
    „Heiler. Ich habe nie ein Studium absolviert. Alles, was ich weiß, hat mich mein Vater gelehrt. Auch er war Heiler und sein Grundsatz lautete, immer dort zu helfen, wo die Menschen ihn brauchten.“
    Jean lachte erleichtert auf. Ein Heiler! Das Schicksal meinte es also doch gut mit ihm. Und er hatte schon befürchtet, dass an der Geschichte vom Phantom etwas dran war. Aber was machte ein Heiler mitten im Wald? Ach, was spielte das schon für eine Rolle? Enjolras hatte schon einmal einem Jungen geholfen, wieder zu sehen. Das war es, was zählte.
    „Dann wirst du mir also helfen?“
    Enjolras schwieg einen Moment. „Ich praktiziere nicht mehr“, sagte er dann. Jean hörte Trauer in seiner Stimme. „Aber wenn du mir sagst, wo du lebst, werde ich dich nach Hause bringen und der ortansässige Arzt wird sich um dich kümmern.“
    Nach Hause? Plötzlich kam ihm wieder alles in den Sinn. Seine Flucht. Die Hochzeit!
    „Nein! Nein, das geht nicht, auf keinen Fall.“
    Eine starke Hand legte sich auf seine Schulter und drückte Jean sanft in sein Kissen zurück. „Beruhige dich. Und erzähle mir, warum das nicht geht.“
    Jean brauchte eine gute Geschichte, dringend. Die Wahrheit würde alles unnötig kompliziert machen. Außerdem kannte er Enjolras kaum, auch wenn er einen vertrauenserweckendenEindruck machte. Doch wenn er erfuhr, dass Jean der geflohene Grafensohn war, kam er vielleicht auf die Idee, seinem Vater einen Hinweis zu geben und dafür eine ordentliche Belohnung zu kassieren. Jean wollte alles, nur nicht zurück nach l’Aurore. In den verhassten goldenen Käfig.
    „Ich … bin … auf der Durchreise. Ich stamme aus Orléans.“ Jean war kein guter Lügner und er war nicht sicher, ob Enjolras ihm auch nur ein Wort abnahm. Zumindest aber spielte er mit.
    „Das ist weit von hier“, sagte er.
    Zu weit, um einen Erblindeten dorthin zu bringen. „Kannst du mich nicht behandeln?“
    „Ich sagte doch gerade, dass ich nicht mehr …“
    „Bitte.“ Er hatte die Hand nach Enjolras ausgestreckt und seine Finger in dessen Hemd gekrallt. Dieser Mann war im Augenblick seine einzige Hoffnung. Er wollte von ihm behandelt werden, weil er bereits Erfahrung mit einem solch schwerwiegenden Fall gemacht hatte.
    „Na schön. Du kannst vorerst hier bleiben. Ich will sehen, was ich für dich tun kann.“

    Er hatte den Heilerberuf vor langer Zeit an den Nagel gehängt. Und es war fast ebenso lange
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