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Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Peter Ransley
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ich Susannah an, mich zu wecken. Ich musste fünf oder sechs gewesen sein, und eine ganze Woche lang erhob ich mich zitternd und starrte verschlafen durch die Löcher im Ölpapier des Fensters.
    Am fünften Morgen döste ich ein und wachte mit einem Ruck wieder auf. Ich lehnte mich aus dem Fenster. Dort stand der Kuchen! Ich hatte sie verpasst! Die Straße war leer, bis auf eine Frau mit einem weiten grauen Umhang und spitzem Hut, wie Hexen ihn trugen. Sie musste mich gehört haben, denn sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Im letzten Moment duckte ich mich, zitternd und voller Angst, sie könnte ein verkleidetes Irrlicht sein und mich augenblicklich in einen Kuchen verwandeln. Als ich mir schließlich zugeredet hatte, ich sei albern (ich führte ständig solche Gespräche mit mir selbst, wie alle einsamen Kinder es tun) und erneut nachschaute, war sie im wabernden Nebel verschwunden.
    Eines Ostersonntags nach dem Gottesdienst sah ich den Kuchen im Vestibül der Kirche. Er sah genauso aus wie immer, und das Marzipan glitzerte, aber beim Namen hatten sie einen Fehler gemacht. Statt meines Namens stand dort GLORIA. Ich nahm ein Messer, das neben dem Kuchen lag. Ob ich meinen Namen darauf schreiben oder mir ein Stück abschneiden wollte, erinnere ich nicht mehr, aber das Messer wurde mir vom Pfarrer, Mr Ingram, entwunden, und dann begann er, mich zu verprügeln. Susannah hörte den Lärm und sprang mir bei.
    »Dies ist Tom.«
    »Ah. Tom. Ja. Ich erinnere mich.«
    Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis ich erfuhr, an was er sich erinnerte. In diesem Moment erntete ich indes wieder einmal diesen sonderbaren Blick. Unter Tränen versuchte ich ihm zu erklären, dass es mein Kuchen sei, nicht Glorias! Ich weiß noch, dass er verblüfft war, weil ich lesen konnte. Doch dazu war es wie folgt gekommen:
    Susannahs größter Schatz, praktisch ihr einziger Besitz, war ihre Bibel. Sie konnte nicht lesen, aber vom Gottesdienst in der Kirche kannte sie ganze Passagen auswendig und wusste, wo sie zu finden waren.
    »Selig sind die Armen und Sanftmütigen«, sagte sie zum Beispiel und fuhr mit dem Finger über die Textstelle, »denn sie werden Gott sehen.«
    Voll Staunen starrte ich auf die Passage. Ich wusste, dass wir selig sein mussten, denn ich erkannte wohl, wie ärmlich unsere winzige Kammer war, in die der Wind durch die Spalten des Ölpapiers am Fenster zog, auch wenn ich Gott nicht sehen konnte.
    Ich glaubte, wenn ich die Worte verstünde, würde ich Ihn sehen. Eines Tages deutete ich auf eine Textstelle und sagte zu Susannah: »Ich … bin … der … gute … Hi…«
    »Hirte!«, rief sie laut.
    Das Leben war für sie ein einziges Gleichnis, so dass sie es für ein Wunder hielt. Plötzlich war mir die Gabe des Lesens verliehen worden. Zitternd und mit Freudentränen in den Augen zog sie mich auf die Straße, damit die Nachbarn davon erfuhren.
    Eine skeptische Frau öffnete das Buch an einer Stelle, die Susannah niemals rezitiert hatte. Als ich stumm auf die Seite blickte, hielt Susannah mich zunächst für verstockt. Dann glaubte sie, einen Fehler gemacht zu haben, indem sie mich vorführte wie einen Tanzbären und dass Gott seine Worte zur Strafe zurückgenommen hätte.
    Sie war so getroffen von diesem Gedanken und dem Grinsen und den Witzen der Nachbarn, dass ich zu den Passagen blätterte, die sie so oft für mich rezitiert hatte, dass ich sie auswendig kannte, und tat, als würde ich sie vorlesen. Ich stockte und stotterte sogar ein wenig, so dass Susannah, deren Gesicht erneut Freude zeigte, mich korrigieren konnte.
    Die Nachbarn waren von Ehrfurcht ergriffen, und um diesen Ruf nicht zu verlieren, verwendete ich meine ganze Sorgfalt darauf, so glaubhaft wie möglich zu wirken. Und an jenem Tag, als ich glaubte, jemand hätte mir meinen Kuchen gestohlen, begann Mr Ingram persönlich mich zu unterrichten. Er erklärte, dass es sich bei dem Kuchen um einen Osterkuchen handelte, mit Safran und Früchten aus dem Osten, ein Symbol der Auferstehung und der Wiedergeburt. Ich begriff nicht, was das mit dem Kuchen auf unserer Türschwelle zu tun hatte, oder wer Gloria war, es sei denn, sie war eines der Irrlichter. Er lachte und sagte, es sei überhaupt kein Name, sondern die Kurzform für Gloria in Excelsis Deo . Ehre sei Gott in der Höhe.
    Und das war meine erste Lektion in Latein.

    Eines Tages, als ich acht war, kam ein bedeutender Edelmann, um die Resolution zu inspizieren, ein fünfhundert Tonnen
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