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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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dem Weg zur Küche spielerisch übers Haar fuhr, wie sie es früher getan hatte, war er drauf und dran, noch einmal anzufangen und ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Aber etwas in ihrem Gesicht, etwas Neues, das er nicht zu beschreiben gewußt hätte, kam ihm fremd vor, und dann war das Gefühl vorüber. Sie sprachen noch eine Weile über Liszt, aber es wurde zu einer Fachsimpelei, die ihn bald langweilte, denn sie hatte keinen Zusammenhang mit Millar und den ockerfarbenen Sesseln im Salon. Nachher auf der Straße dachte er, daß sie sich neulich am Telefon näher gewesen waren als während der ganzen Begegnung heute abend.
    Sie hatten sich für den nächsten Tag zum Mittagessen verabredet. Perlmann ging nicht hin. Er schob ihr, während er sie einen Lauf spielen und etwas erklären hörte, einen Zettel unter der Wohnungstür durch und fuhr dann mit dem Bus zum Konservatorium. Aus dem Raum, in dem er damals immer geübt hatte, klang Mozart. Nach einer Weile öffnete er die Tür einen Spaltbreit. Am Flügel saß ein Mann mit krausem Haar und einem orientalischen Gesicht, der mit unerhörter Leichtigkeit spielte. Der Raum hatte jetzt eine ganz andere Tapete, und das Bild von Klee hing nicht mehr da. Behutsam schloß er die Tür. Er hatte vorgehabt, die Straße aufzusuchen, wo er aufgewachsen war. Doch als er auf einmal die schwarzen Eisenzäune vor sich sah und spürte, wie sein Arm in bogenförmigen Bewegungen über die Lücken hüpfte, ließ er den Plan fallen und nahm den nächsten Zug nach Frankfurt.
     
    Im Briefkasten lag eine Benachrichtigung der Post über ein Paket. Daß es von Leskov kam, sah er sofort, als der Beamte es am nächsten Morgen aus dem Regal nahm. Er wünschte, es wäre nicht gekommen, was immer es enthalten mochte. Leskovs Brief, den hatte er gebraucht, und er hatte ihn aushalten müssen. Daß er ihn in seiner Ausführlichkeit als zudringlich empfunden hatte, das durfte er sich nur zugeben, wenn er weghörte. Der Brief war das Äußerste gewesen, was er ertrug, das letzte, was er von diesem Vasilij Leskov noch hören wollte. Gut, er würde ihm irgendwie antworten müssen. Aber das konnte in einem konventionellen Ton geschehen, es gab Stimmungen, in denen er solche Dinge ohne innere Beteiligung rasch herunterschrieb. Und dann wollte er nie wieder etwas hören. Nie wieder.
    Obenauf lag das angekündigte Exemplar von Leskovs Text. Darunter vier in hellbraunes Kunstleder gebundene Bände in russischer Sprache: Maksim Gorkij, Žizn’ Klima Samgina. Auf dem ersten Blatt des ersten Bandes stand in zittriger Handschrift: Moemu synu Vasiliju. Die Widmung war mit schwarzer Tinte geschrieben, und die Feder hatte gespritzt, es gab einen Hof von schwarzen Pünktchen um die Wörter herum. Das Leder war abgegriffen, fleckig und an zwei Stellen aufgeritzt. Es waren die Bände, die Leskov im Gefängnis gelesen hatte; vierzehnmal.
    Perlmann wußte, daß er Rührung empfinden sollte, und empfand nur Wut, eine Wut, die mit jedem Blick, den er auf die Bücher warf, größer wurde. Durch diese braunen Bände mit der goldenen Aufschrift hatte sich Leskov Zugang zu seiner Wohnung verschafft und war nun auf eine Art anwesend, die fast noch durchdringender und lähmender war als eine körperliche Gegenwart. Jetzt roch er auch den Hauch von süßlichem Tabak, der zwischen den Seiten hängengeblieben war. Er spürte, daß er gleich die Nerven verlieren und die Bücher zum Fenster hinaus in den Matsch werfen könnte, und so zog er wieder den Mantel an und ging langsam um den Häuserblock.
    Später legte er die Bände in der Besenkammer aufs Regal und deckte sie mit einem Lappen zu. Als er den getippten Text danach widerwillig durchblätterte, entdeckte er, daß Leskov ihm zu Beginn des Anmerkungsteils überschwenglich für die Diskussion einer früheren Fassung dankte und seine konstruktive Kritik in vier Fußnoten erwähnte. Die Last, die durch den Brief von ihm genommen worden war, schien erneut auf ihn herunterzusinken, wenngleich er nicht verstand, wie das sein konnte, wo Leskov die Stelle doch nun hatte.
    Er verteidigte sich gegen die Bücher in der Besenkammer, indem er die Rezension abschloß und mit der Vorbereitung seiner Lehrveranstaltungen begann. Als Adrian von Levetzov anrief und sich nach der Veröffentlichung erkundigte, setzte Perlmann hinterher ein Rundschreiben an die Kollegen auf, in dem er behauptete, einige Teilnehmer der Gruppe hätten mit ihrem Beitrag inzwischen etwas anderes vor, so daß er den
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