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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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gestern vorsprach, wurde mir das Ergebnis mit beleidigender Beiläufigkeit mitgeteilt. Und überdies mußte ich feststellen, daβ die Konditionen der Stelle schlechter sind als erwartet. Aber immerhin: Es ist eine Dauerstelle, und zum erstenmal kann ich aufatmen. Ich hätte es gerne mit jemandem gefeiert; aber dafür wäre nur Jurij (der mit den fünfzig Dollar) in Frage gekommen, und der war nicht da. Ich habe versucht, Dich anzurufen, aber mit den paar ständig besetzten Leitungen ist es ein Elend, und so habe ich mit diesem Brief begonnen, den ich unterbrechen mußte, weil mich die Erschöpfung wieder einholte.
    Ich denke viel an die wunderbare Woche bei Euch. Ein Exemplar des Texts schicke ich Dir mit getrennter Post. (Es wird Dich wahrscheinlich ärgern, wenn ich es sage, aber trotzdem: Ich glaube nicht, daβ er für Dich zu schwierig ist.) Am liebsten würde ich auch allen anderen Kollegen ein Exemplar schicken – damit sie sehen, daβ es den ominösen Text wirklich gibt! Denn es ist ja schon ein für unseren Beruf typischer Alptraum, irgendwo zum Vortrag eingeladen zu sein – und man hat keinen Text! Wie leicht hat man dann das Gefühl, die anderen müßten einen für einen Hochstapler halten! Aber vielleicht kommt es ja zu einer Übersetzung und Veröffentlichung. Siehst Du da inzwischen schon klarer?
    Ich hoffe, bald von Dir zu hören. Du hast auf uns alle einen sehr erschöpften Eindruck gemacht, und ich wünsche Dir, daβ Du bald wieder zu Kräften kommst. Ich habe gespürt, daβ Du nicht auf Agnes angesprochen werden möchtest, und so will ich Dir nur versichern, daβ es in der Gruppe großes Verständnis für Deine schwierige Lage gab.
    Und erlaube mir, zum Schluß noch dies hinzuzufügen: Ich hatte schon damals, als Du hier warst, das Gefühl, in Dir einen Freund gewonnen zu haben. Nach der Woche bei Euch bin ich dessen nun ganz sicher. Du hast meiner Arbeit ein Interesse entgegengebracht, wie ich es bisher von niemandem kannte. Und die Art, wie Du Dich für Klim Samgin interessiert hast, hat mir gezeigt, daβ wir auch darüber hinaus vieles gemeinsam haben. Ich brauche nicht zu betonen, wie sehr ich mich auf ein baldiges Wiedersehen freue.
    Do svidanija. Dein Vasilij
     
    Bei den Sätzen des letzten Absatzes trieb es Perlmann erneut die Tränen in die Augen. Aber jetzt waren es nicht Tränen der Erlösung, sondern der Scham, und er verbarg das Gesicht im Kissen. Als er nachher ins Bad ging, um das tränennasse Gesicht zu waschen, spürte er, daß ein Druck von ihm wich, der so gewaltig gewesen war, daß er sein Empfinden die ganze Zeit über von ihm hatte abwenden müssen, um ihn ertragen zu können. Erschöpft legte er sich aufs Sofa, und nach einer Weile las er den Brief noch einmal.
    Die schlimmsten Stellen, fand er, waren die mit dem Gefängnis und mit der Klammerbemerkung über seine Kenntnis der Privatadresse. Danach kam die Stelle mit dem Drama und den unbekannten Akteuren, und unerträglich war auch, daß Leskov, weil er niemanden zum Feiern hatte, ausgerechnet ihn, der um ein Haar zu seinem Mörder geworden wäre, hatte anrufen wollen. Erst im Laufe des Tages gelang es Perlmann, über die eine oder andere Stelle, die er zum wiederholten Male las, zu lächeln, und stets war es ein gefährdetes Lächeln, das sich nicht zu weit vorwagen durfte, wenn es nicht in erneuten Tränen untergehen wollte. Als die frühe Dämmerung einsetzte, ging er an den Flügel und spielte das Nocturne in Des-Dur. Blind vor Tränen griff er immer wieder daneben.

62
     
    Mitte Dezember fuhr er zu Hanna Liebig nach Hamburg. Ihr goldenes Haar hatte einen silbernen Schimmer bekommen, und unter der dunklen Strähne, die sie betont in die Stirn kämmte, war eine lange Narbe, die, wie sie verlegen sagte, von einem Autounfall stammte. Energisch war sie immer noch. Doch es war, fand er, etwas Verbrauchtes und Enttäuschtes in ihrem Gesicht. Die Wohnung gefiel ihm, aber es gab eine verschnörkelte Wanduhr und ein paar Keramikdinge, die ihn verstörten, weil sie ihm schrullig vorkamen – wie Symptome dafür, daß Hannas früher so ausgeprägter Sinn für elegantes Design dabei war, ihr zu entgleiten.
    Beim Essen erzählte er ihr von der Forschungsgruppe, von Millar und ihrer Rivalität. Auch daß er die As-Dur-Polonaise gespielt hatte, erwähnte er. Zwar verstand sie danach irgendwie, warum er sie damals angerufen hatte. Aber ohne den Tunnel, die Angst und die Verzweiflung klang das Ganze hohl und kindisch. Als sie ihm auf
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