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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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eingerissen, und das erste Blatt hat ein Loch wie von einem Durchschuß. Doch all das ging ja noch. Was mich für eine Weile vollständig lähmte, war die Entdeckung, daβ siebzehn Seiten fehlten! Siebzehn Seiten! Und ausgerechnet die acht letzten, auf denen ich zeige, was Aneignung bei meiner Konzeption von erzählendem, erdichtendem Erinnern heißen kann! Zuerst dachte ich: Bis in einer Woche schaffe ich das nie. Und es meldete sich wieder die Apathie, die sich beim Anblick der gelben Aufkleber mit einem Schlag in nichts aufgelöst hatte. Doch dann kam mein Gedächtnis in Gang, ich stellte fest, daβ mirvieles, was verloren war, wieder einfiel, und da raffte ich mich auf und ging an den Schreibtisch.
    Du wirst es wahrscheinlich verrückt finden, aber ich konnte mit der Arbeit nicht richtig beginnen, bevor ich eine Erklärung für den Zustand der Blätter gef unden hatte. Und das war nicht leicht!
    Aufgegeben worden war die Sendung in Frankfurt. Also hatte ich den Text beim Umsteigen im Warteraum liegenlassen. (Nicht im Flugzeug – meine Theorie über Putzkolonnen kennst Du ja.) Es gelingt mir zwar auch jetzt nicht, mich daran zu erinnern, daβ ich ihn herausgenommen habe. (Eher das Gegenteil: Mittlerweile ist mir wieder eingefallen, daβ ich, getarnt durch eine liegengebliebene Zeitung, lange eine phantastisch aussehende Frau zwei Reihen weiter vorn beobachtet habe.) Aber es muβ ganz einfach so gewesen sein. Woher dann aber der Dreck und die Blasen im Papier, die von Wasser herzurühren schienen? Erst abends im Bett kam ich drauf: Irgend-wann-durch die Berührung eines Mantels oder durch ein Kind- sind die Blätter auf den Boden gefallen; in einem solchen Warteraum liegt am Ende eines Tages ja vieles auf dem Boden. Ich habe eine solche Maschine nie selbst gesehen, aber es muβ riesige Staubsauger geben oder jedenfalls automatische Putzmaschinen, mit denen saubergemacht wird. Und dann ist es ganz klar: In so ein Ding müssen die Blätter hineingeraten sein. Das erklärt den Dreck und die Risse, und da das Putzen ja nicht ohne Wasser geht, überraschen auch die Blasen und Wellen im Papier eigentlich nicht.
    Daβ man auf die vielen gelben Blätter nicht aufmerksam geworden ist: Irgendwie stelle ich mir zwei schwatzende Putzfrauen vor, die in dem nur noch halb erleuchteten Warteraum achtlos mit dem Staubsaugerrohr entlangfahren. Wie dann der Schmutzbehälter geleert wird, entdecken sie das Papier. Siebzehn Seiten sind hoffnungslos zerstört, da gibt es nur noch ein Schulterzucken. Den Rest leiten sie weiter, ans Fundbüro, wenn es da so etwas gibt. Du siehst: Diese eine Putzkolonne ist eine Ausnahme von meiner Theorie. Wie es sich für einen Deus ex machina ja auch gehört!
    Es wurde eine unruhige Nacht, denn immer wenn ich kurz vor dem Einschlafen war, fiel mir ein weiteres Rätsel ein. Eine harte Nuβ war die Sache mit der Adresse. Ich weiß nicht mehr, ob ich es Dir erzählt habe: Ich schreibe die Adresse immer auf die letzte Seite. Aber die fehlte ja! Ich geriet in Aufregung wie bei einem Schachrätsel. Schließlich hatte ich drei Hypothesen, zwischen denen ich mich auch heute noch nicht entscheiden kann: Entweder das letzte Blatt war so beschädigt, daβ sie nur noch die Adresse abschrieben und es dann wegwarfen. Oder derjenige, der den Umschlag fertig machte, behielt das letzte Blatt draußen, um die Adresse zu übertragen, und vergaβ dann, es auch noch in den Umschlag zu stecken. (Vielleicht wurde er von etwas abgelenkt oder so.) Oder schließlich: Da ich oft alte Briefumschläge als Notizzettel benutze, kann ein solcher Umschlag mit der Adresse zwischen die Blätter gerutscht sein. Daher hatten sie die Adresse, und gar nicht aus dem Text.
    Ein anderes Mal stand ich auf und sah noch einmal auf den Stempel: Warum hatte die Lufthansa eine volle Woche gebraucht, um die Sendung aufzugeben? Eine Weile war ich wütend über die Leute: Was hätten sie mir nicht alles ersparen können, wenn sie schneller gewesen wären! Aber dann überwog bald wieder die Dankbarkeit, besonders als mir zu Bewußtsein kam, da β die Adresse ja in russisch auf dem Text stand. Sie müssen extra jemanden geholt haben, der Russisch liest, und zwar auch Handschrift! Na ja, dachte ich, die Lufthansa ist eben die Lufthansa. Inzwischen habe ich einen Dankesbrief geschrieben, und Reklame werde ich auch machen. (Als ob die Lufthansa meine Reklame bräuchte!)
    Die letzte Ungereimtheit fiel mir erst am nächsten Morgen beim Rasieren ein: Woher
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