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Pelte, Reinhard

Pelte, Reinhard

Titel: Pelte, Reinhard
Autoren: Inselbeichte
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Arbeitsraum leer und karg erscheinen. Es hätte nicht gepasst, Bilderschmuck oder andere dekorative Elemente darin unterzubringen. Früher hatte Jung sich über die armselige Ausstattung aufgeregt, heute schätzte er es, sich ohne Ablenkung auf seine Arbeit konzentrieren zu können.
    Die Akte auf seinem Schreibtisch war dick, jedenfalls gemessen an den Akten, die unaufgeklärte Kapitalverbrechen üblicherweise nach sich ziehen. Er las sie in einem Zug durch, und als er danach auf seine Uhr schaute, war mehr Zeit verstrichen, als sein Gefühl ihm weismachen wollte. Der Ordner enthielt die Ermittlungsergebnisse im Fall eines spurlos verschwundenen 11-jährigen Mädchens aus Nordfriesland. Der Fall lag zehn Jahre zurück. Jetzt standen sie kurz vor dem Jahreswechsel 2006/2007. Ganz besondere Umstände mussten für die lange Zeit dazwischen verantwortlich sein.
    Das Mädchen war mittags mit dem Fahrrad vom elterlichen Hof ins nahe gelegene Husum zu ihrem Klavierlehrer gefahren und dort nicht angekommen. Sie und ihr Fahrrad wurden niemals gefunden. Ungewöhnlich, ja beunruhigend einzigartig war die Tatsache, dass Jungs Kollegen niemanden hatten ausfindig machen können, der das Mädchen nach dem Verlassen des elterlichen Hofes noch einmal gesehen hatte. Ihr älterer Bruder war der Letzte gewesen, der beobachtet hatte, wie sie auf ihrem Fahrrad die Auffahrt hinunter auf die Straße rollte. Danach schien sie wie vom Erdboden verschluckt zu sein, so, als hätte es sie nie gegeben.
    Ihr üblicher Weg in die Stadt wurde in einer Suchaktion, deren Aufwendigkeit und Akribie Jung selten vorher so erlebt hatte und die ihm rückhaltlose Bewunderung abnötigte, auf alle nur erdenklichen Spuren, auch auf die winzigsten Kleinigkeiten abgesucht. Dabei stellte sich heraus, dass der überwiegend landwirtschaftlich genutzte Raum, der Fremden weit und leer erscheinen musste, durchaus belebt war und unter der durchgängigen Kontrolle der bäurischen Anrainer lag, deren misstrauischer Aufmerksamkeit so leicht nichts entging. Sogar achtlos weggeworfene Zigarettenkippen in den Entwässerungsgräben oder ausgespuckte Kaugummis übersahen sie nicht und wurden naserümpfend registriert.
    Jung fragte sich, warum sein Chef ihn erst nach so langer Zeit, aber noch vor seiner Einberufung zur Marine, auf diesen schwierigen Fall angesetzt hatte. Die Vermutung lag nahe, dass er mit Jungs Arbeit an der Aufklärung eines Giftmordes auf Sylt {3} unzufrieden war. Er hielt mit den Gründen für seinen Missmut aber lieber hinter dem Berg und wollte Jung nun auf diesem Weg spüren lassen, wie ungehalten er war. Denn für Holtgreve war die Arbeit an einem so weit zurückliegenden und äußerst kompliziert erscheinenden Fall eine Art Strafe. Er bot keinerlei Aussicht, Erfolg versprechend abgeschlossen zu werden und sich Respekt zu erwerben, ganz zu schweigen von öffentlicher Anerkennung.
    Aber für Jung war es ein Glücksfall. Er schätzte stille, langsame und subtile Fälle, die aus dem Brennpunkt der Aufmerksamkeit gefallen waren. Gerade die unaufgeklärten Fälle berührten, seiner Meinung nach, die tiefsten Abgründe menschlicher Existenz. Jedes Geschehen auf dieser Erde hatte seine Gründe und Folgen, es gab keine Zufälle, sondern nur Botschaften, davon war er felsenfest überzeugt. Und er wusste, dass Gründe, Folgen und Botschaften, wenn sie unerkannt blieben oder bleiben sollten, unterhalb der zivilisatorischen Politur zu finden waren. Sie waren schwer zu verstehen und auch schwer zu finden. Ein guter Ermittler musste Distanz wahren und die Signaturen des Untergrundes auf der polierten Oberfläche lesen lernen. Je tiefer die Gründe lagen, desto unscheinbarer waren dort die Zeichen. Hier lagen die unaufgeklärten Fälle. Das war etwas für ihn. Ihm lag das einfach. Er glaubte zu wissen, wo die flüchtigsten Kräuselungen aufzuspüren waren und traute sich zu, sie zu deuten. Sein Gespür für kleinste Nuancen und falsche Töne hatte ihm seine Frau schon öfter vorgeworfen, wenn die Gelegenheit ihr dafür einen Grund zu liefern schien. Er sei nicht nur misstrauisch, sondern auch kleinkariert und besserwisserisch. Sie glaubte sogar, zwanghafte Züge an ihm entdeckt zu haben. Er aber vertraute seinen Fähigkeiten und glaubte immer genau erkennen zu können, wo forcierte Freundlichkeit schlechte Absichten verbarg, hinter sympathischer Aufmerksamkeit List und Tücke lauerten, wo ein eiskaltes Herz heiße Tränen vergoss und hinter kalter Teilnahmslosigkeit
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