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Pelte, Reinhard

Pelte, Reinhard

Titel: Pelte, Reinhard
Autoren: Inselbeichte
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glühende Liebe brannte. Er witterte die tiefe Traurigkeit hinter einem lockeren Lachen, die verzweifelte Einsamkeit in umtriebiger Geselligkeit, die herzlose Grausamkeit hinter schwelgerischer Gefühlsseligkeit und die unsägliche Angst in der Heldenpose. Er spürte fast körperlich, wo hinter einer zur Schau gestellten Hilfsbedürftigkeit Hass, Wut und Neid lauerten. Er sah die Menschen, wie sie um ihr Auskommen kämpften, wie sie ihren Hunger und Durst stillten, er sah ihr Verlangen nach Sex, ihre Gier nach Geld und ihre verzehrende Suche nach der großen Liebe. Und er kannte den chaotischen Hexentanz, wenn unter übermenschlichem Druck oder im Rausch von Alkohol, Drogen und überbordender Laune oder im Zustand manischen Verliebtseins alles durcheinander purzelte. Es kam ihm dann so vor, als entpuppte sich die unerträgliche Leichtigkeit des Seins als der unerträgliche Schmerz zutiefst verletzter Seelen. Er dachte oft und lange darüber nach. Auch darüber, wo er sich selbst in diesem Panoptikum aus Instinkten, Gefühlen, Trieben, Leidenschaften und Bedürfnissen einzuordnen hatte. Und dann öffnete sich in ihm die vage Ahnung von einer fernen, kosmischen Kraft, die zwar hintergründig jedoch nie hinterlistig oder fies, und deren geheimnisvolles Wirken so unfassbar gewaltig, so richtig und gerecht war, dass ihm schwindelig wurde. Ja, dachte er, wenn seine Gedanken ihn nachts am Schlaf hinderten, ja und nochmals ja, so ist es, und so muss es einer gewollt haben. Und dann drängte es ihn plötzlich aufs Klo, und hinterher fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
     
    *
     
    Damals waren die Medien voll von dem Fall des spurlos verschwundenen Mädchens gewesen. Als die Polizei keine schnellen Aufklärungsergebnisse liefern konnte, schlugen die Wellen der öffentlichen Empörung hoch. Die Angst vor einer Wiederholung und das Grauen vor der gespenstischen Unerklärlichkeit der Tat brachte die Menschen zu grotesken Reaktionen. In Leserbriefen an die Presse wurde zu Formulierungen gegriffen, die jedes Maß und jedweden vernünftigen Gedanken vermissen ließen. Aber Menschen, vor allem, wenn sie nicht unmittelbar betroffen sind, halten einen derartigen Erregungszustand nicht lange durch. Aus diesem Grund war der Fall relativ schnell aus den Schlagzeilen verschwunden. Die ermittelnden Beamten konnten kein frisches Futter für eine Dauererregung nachliefern.
     
    *
     
    Jung atmete hörbar aus. Die Luft im Raum war stickig. Weihnachten war nicht mehr fern, und die Heizung lief schon längst auf vollen Touren. Er drehte den Thermostat herunter und öffnete das Fenster. Alles wirkte trüb und grau. Die Temperatur musste bis nahe an den Gefrierpunkt gesunken sein. Die Nässe schlug sich zwar noch nicht als fester Belag nieder, aber es war so unangenehm feucht und kalt, dass es einer Bestrafung gleichkam, sich draußen, an der frischen Luft aufhalten zu müssen. Jung blickte auf die schräg gegenüberliegende, schemenhaft auszumachende Hafenspitze. Das Wasser lag wie ein Bleiklotz in der Förde, obwohl ein steifer Wind ging und tiefe, dunkle Wolkenfetzen unter einem düsteren Himmel vorbeihasteten.
    Jung schüttelte sich fröstelnd und schloss das Fenster wieder. Er überlegte, wie er den Fall am besten angehen sollte. Er schätzte es, sich mit einem Kollegen seines Vertrauens darüber zu besprechen, vor allem zu Beginn, bevor er loslegte. In der Vergangenheit hatte ihm sein pensionierter Kollege Boll dafür gerne zur Verfügung gestanden. Das letzte Mal hatte er Jung sogar dazu animiert, höhere Mächte für das afrikanische Abenteuer einzuspannen, was ursprünglich gar nicht in Jungs Absicht gelegen hatte. Denn er war zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon auf den vorliegenden Fall angesetzt gewesen. Sein Chef beugte sich jedoch gern den Anweisungen von oben, vergaß das spurlos verschwundene Mädchen für eine Weile und ließ Jung in die Fremde ziehen. Holtgreve wusste damals nicht, wohin es Jung trieb. Falls doch, hätte er trotz allem keine Einwände bei seinen Vorgesetzten vorgebracht. In seinen Augen machte man das einfach nicht, streng genommen, verbot es sich sogar.
    Jung beschloss, Boll anzurufen und um ein Gespräch zu bitten. Er hatte ohnehin vor, ihn zu treffen. Schließlich war Boll der Auslöser für seinen Aufenthalt am Horn von Afrika gewesen, und er würde sicherlich brennend interessiert sein, zu hören, welchen Ausgang Jungs afrikanische Spiele genommen hatten. Er nahm den Hörer auf und
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