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Pedro Juan Gutiérrez

Pedro Juan Gutiérrez

Titel: Pedro Juan Gutiérrez
Autoren: Schmutzige Havanna Trilogie
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musste härter werden. Aber noch wusste ich nicht genau, wie ich die ganze Scheiße loswerden konnte. Ich blieb einfach in Bewegung, reiste kreuz und quer auf meiner kleinen Insel herum, lernte Leute kennen, verliebte mich und vögelte. Ich vögelte ziemlich viel: hemmungsloser Sex half mir, vor mir selbst zu fliehen. Das war meine klaustrophobische Zeit. An jedem ein wenig geschlossenen Ort hatte ich das Gefühl, ersticken zu müssen, und heulte auf wie ein Wahnsinniger. Alles begann an dem Tag, an dem ich im Fahrstuhl unseres Hauses stecken blieb. Er ist ziemlich alt, stammt aus den dreißiger Jahren, das heißt, er hat Gitter und ist offen. Es ist ein amerikanisches Modell, also hässlich, keiner dieser herrlichen europäischen Fahrstühle aus der Belle Epoque, die in den Hotels der alten Pariser Viertel sanft auf und nieder gleiten. Dieser Fahrstuhl ist nur ein Stück Schrott. Er ist unbeleuchtet, weil die Nachbarn die Glühbirnen klauen, und stinkt immer nach Urin, Dreck und der Kotze des Säufers aus dem vierten Stock. Man fährt langsam hoch und runter und kann die Aussicht genießen: Zement, Treppenabsätze, Dunkelheit, wieder Treppenabsätze, Wohnungstüren, jemand, der wartet und sich dann doch für die Treppe entscheidet, weil der Fahrstuhl immer stehen bleibt, wenn es ihm passt. Oft hält er nicht genau auf Höhe des Stockwerks. Dann hat man den rauen Zement des Schachts vor Augen, und die Leute rufen: »Holt mich hier raus, verdammt, ich stecke fest!« Er funktioniert wie ein seniler alter Mann, der alles vergisst, und bewegt sich ganz langsam auf und ab, zitternd und keuchend, als habe er nicht mehr genügend Kraft für solche Anstrengungen. Und bei einem dieser unerwarteten Stopps zwischen zwei Stockwerken steckte ich also die Hand zwischen das Gitter der Tür und die Schachtwand, kauerte mich nieder und tastete nach dem Türrahmen des unteren Stockwerks, um sie genau auszurichten. Nur so bekommt man den Mechanismus wieder in Gang und kann weiterfahren. Und es gelang mir. Ich machte die Tür fest zu, der Fahrstuhl setzte sich wieder in Bewegung, ließ mir aber nicht genug Zeit, meinen Arm zurückzuziehen. Er war eingeklemmt zwischen Wand und Gitter, einem Spalt von drei Zentimetern (ich habe nachgemessen). Es war furchtbar. Mein Arm und meine Hand scheuerten mit der gemächlichen Geschwindigkeit des Fahrstuhls an der Wand hinauf bis zum siebten Stock. Ich schrie wie am Spieß, wälzte mich hin und her und war überzeugt, dass mein rechter Arm und die Hand nur noch eine Masse aus Blut und zertrümmerten Knochen waren. Aber nichts da. Kein gebrochener Knochen. Es brannte wie Feuer. Arm und Hand waren nur noch rohes, blutiges Fleisch und die Nerven ein Püree aus Dreck und Hundescheiße. Und im nächsten Moment war ich im Fegefeuer der Hölle. Galoppierende Klaustrophobie. Als ich aus dem Fahrstuhl kam, vielmehr als man mich aus ihm herausgezogen hatte, war ich ein Gefangener meiner selbst. Und blieb es für viele Jahre.
    Die Klaustrophobie war so entsetzlich, dass ich nachts manchmal aus dem Schlaf auffuhr und aus dem Bett sprang. Ich fühlte mich eingesperrt: in der Nacht, im Zimmer, in mir selbst und bekam keine Luft. Ich musste pinkeln und Wasser trinken und die dunkle Unendlichkeit des Meeres sehen und die salzige Luft und das Jod atmen. Erst dann wurde ich wieder ein wenig ruhiger.
    Es war natürlich nicht nur der kaputte Fahrstuhl. Der war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Ihm waren viele andere Dinge vorausgegangen, die ich nach und nach erzählen möchte. Später, nicht gleich. Ich werde davon berichten, wie im Gespräch mit einem Toten durch eine Santera, werde Blumen und ein Glas Wasser und Gebete darbringen, damit dieser Tote in Frieden ruht und nicht mit denen von uns, die wir noch im Diesseits weilen, seine Spielchen treibt.
    So war's jedenfalls um mich und meine Klaustrophobie bestellt, die mich erdrückte, zu zerquetschen drohte wie eine Kakerlake. Und ich ging viel spazieren, lief überall hin, vor allem davon. Ich konnte einfach nicht zu Hause bleiben. Das Haus war die Hölle. Eines Tages besuchte ich ein Seminar für Filmemacher, in der Hoffnung, dort Stoff für einen Artikel für die alberne Wochenzeitschrift zu finden, bei der ich gerade arbeitete.
    Das Seminar fand in einer Filmschule in einem Vorort Havannas statt und dauerte vier Tage. Gleich zu Beginn fiel mein Blick auf Rita Cassia: eine goldbraune Brasilianerin, die vorhatte, mit dem Schreiben von
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