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Pedro Juan Gutiérrez

Pedro Juan Gutiérrez

Titel: Pedro Juan Gutiérrez
Autoren: Schmutzige Havanna Trilogie
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Meer, als veranstalteten sie ein Picknick. Das war im Sommer 94. Seit vier Jahren herrschten in meinem Land Hunger und Wahnsinn, aber am stärksten war Havanna betroffen. Ein Freund von mir sagte immer: »Pedro Juan, man kann hier nur leben, wenn man verrückt oder besoffen ist oder schläft.« Ein paar Vernünftige kamen, um den Leuten, die abhauen wollten, ins Gewissen zu reden. Man erwiderte ihnen:
    »Ich will nur raus aus dieser Scheiße. Dort drüben führt man ein gutes Leben.«
    Sie waren sehr verzweifelt und vielleicht sehr mutig. Oder Ignoranten, was weiß ich. Wahrscheinlich gehen Mut und Ignoranz Hand in Hand.
    Neugierig stand ich ein Weilchen bei diesen Leuten rum. Unter ihnen war sogar ein Polizist, der vier Typen dabei half, ihr Floß zu verschnüren, und zu ihnen sagte: »So ist es stabiler. Ich hoffe, ihr schafft's.« Ich werde Politik nie verstehen. Dreißig Jahre lang wurde jeder, der versuchte, in die USA zu fliehen, verfolgt und verhaftet, hingegen waren all diejenigen, denen es gelang, Haie, Wellen und Golfstrom zu überwinden, in Miami Helden für einen Tag. Und dann auf einmal beschlossen die Politiker beider Länder, es genau umgekehrt zu machen, weil es ihnen besser in den Kram passte. Und da gibt es noch immer Leute, die sich über Absurdes, abstrakte Kunst und Surrealismus wundern. Dabei muss man doch nur ein bisschen leben und die Augen aufmachen, oder?
    Als ich genug gesehen hatte, schwang ich mich wieder auf mein Rad und fuhr nach Hause. Langsam. Ich fahre gerne den Malecón entlang. Auf halbem Weg bog ich zu Pedrojo-äns Oberschule ab. Eine Vorahnung? Mag sein. Mir ging nur durch den Kopf: »Pedroján ist ein bisschen durcheinander, mal sehen, wie die Dinge laufen.« Das war alles. Ein anderes Vorgefühl hatte ich nicht. Doch kaum hatte ich einen Fuß in die Eingangshalle der Schule gesetzt, riefen mir zwei Jungs zu: »Pedroján ist vom Bus gefallen! Man hat ihn ins Krankenhaus gebracht.«
    Ich musste mich zusammenreißen. Fast wäre ich umgekippt. Die Jungs erzählten mir, in welches Krankenhaus er gebracht worden war, und ich schoss davon wie ein Pfeil. Es war das schlimmste Krankenhaus Havannas, das schmutzigste und heruntergekommenste von allen. Der Junge und ein Lehrer waren schon seit zwei Stunden da, aber niemand kümmerte sich um sie. Sein Handgelenk war gebrochen. Er hatte aus der Tür eines gerammelt vollen Busses gehangen, als seine Hand langsam abglitt. Er wusste, dass er auf die Straße fallen würde und dabei sterben konnte. Er sagte zu einem Mann neben sich: »Bitte halt mich, ich falle gleich.« Aber der Scheißkerl erwiderte nur: »Dann fall eben, ist mir doch egal.«
    Und Pedroján purzelte auf die Straße, der Bus fuhr immerhin noch sechzig Stundenkilometer. Wie durch ein Wunder blieb er am Leben. Ich setzte mich in Bewegung, fand zwei Orthopäden und bat sie, meinen Sohn zu behandeln. Schließlich legten sie ihm einen Verband an. Sie legten das Handgelenk und einen Teil des Arms in Gips, und wir gingen nach Hause. Aber das Gelenk war noch immer geschwollen und tat ihm sehr weh. Ich fürchtete, dass man den Gipsverband nicht richtig angelegt hatte. An Gips wurde jetzt gespart. Am nächsten Tag brachte ich ihn in ein anderes Krankenhaus und musste wieder darum kämpfen, dass man ihn behandelte. Ich gab ihm ein Aspirin, und er schlief mittags ein Weilchen. Als alles ruhig war, ging ich hinaus auf die Dachterrasse hoch über dem Meer. Ich wollte rauchen und einen Kaffee trinken. Ich war völlig erledigt. Meine Suche nach Gleichgewicht endete immer wieder in Unausgeglichenheit. Ich sehnte mich einzig und allein nach innerem Frieden. Vielleicht sollte ich ein bisschen was über Zen lesen: A Way of Life. Aber das half gar nichts. Meine Gedanken schweiften einfach drüber hinweg. Dann fand ich eines von Pedrojáns Schulheften. Seit einiger Zeit las er mehrere Bücher gleichzeitig. Das Heft war voller Zitate, abgeschrieben von Hermann Hesse, García Márquez, Grace Paley, Saint-Exupéry, Bukowski und Thor Heyerdahl. Ein guter Mix. Diese Kombination plus Rockmusik vermochte einem Fünfzehnjährigen die Langeweile zu vertreiben und ihn ganz schön in Unruhe zu versetzen. Was gut ist. Finde ich. Hauptsache, man langweilt sich nicht.
    Dann rief mich María an. Sie schreibt seltsame Geschichten, betrachtet mich als ihr Privatlexikon und konsultiert mich gerne bei ihren semantischen Schändungen, die im Großen und Ganzen für die poetische Atmosphäre ihrer Erzählungen sorgten.
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