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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Autoren: Bernhard Albrecht
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Hütter. Wollte er den Kontakt zwischen Patient und Klinik unterbrechen? Rechnete er gar damit, dass der niedergelassene Onkologe die HIV-Medikamente einfach wieder ansetzte, weil er Risiko und Kosten scheute? Dann wäre nicht mehr auszumachen, warum das Virus verschwunden blieb – wegen der Stammzelltransplantation oder vielleicht nur wegen der Medikamente. Wollte U. also verhindern, dass die Sensation, die alle kommen sahen, wissenschaftlich sauber nachgewiesen werden könnte? Das alles vermutete Hütter, doch er sprach nie mit U. selbst darüber.
    Ein anderer beteiligter Arzt glaubt, es war Tim selbst, der mit Professor U. nicht zurechtgekommen sei und deshalb zur Praxis gewechselt habe. Wie auch immer es sich zutrug – nach einigen klärenden Telefonaten arbeitete der niedergelassene Onkologe eng mit der Klinik zusammen. Jede Woche bekam Hütter neue Laborwerte zugeschickt.
    Nach 120 Tagen dann der stille Triumph. Das HI-Virus war nicht in Tims Körper zurückgekommen. Sein Patient würde wohl nie wieder Medikamente brauchen.
    Hätte Hütter weltlichen Ruhm gesucht, hätte er jetzt an die Öffentlichkeit gehen können. Schlagzeilen in allen Boulevardblättern wären ihm sicher gewesen. Doch Hütter wollte mehr. Mit seiner Entdeckung wollte er den wissenschaftlichen Olymp der Ärzte erklimmen: das New England Journal of Medicine, 1812 in Massachusetts gegründet, die meistzitierte medizinische Fachzeitschrift der Welt. Eine Veröffentlichung dort als maßgeblicher Autor ist die unumstrittene Krönung jeder wissenschaftlichen Arbeit.
    Hütter schätzte seine Chancen gut ein. Doch alles sollte anders kommen als erwartet. Für ihn – und für Tim Brown.

    »Jetzt müssen Sie erst mal keusch sein wie ein Mönch!«, sagte der Direktor. Denn es gebe einen zweiten HI-Virus-Typ, fuhr der Arzt fort, viel seltener zwar, aber vor dem sei Tim auch jetzt, mit seinen neuen Blutzellen, nicht gefeit. Tim erwiderte nur: »Ja, das will ich versuchen.« Aber er brach seinen Vorsatz schon bald und stürzte sich in eine Affäre.
    Erklären konnte er es niemandem. Fehlten ihm Demut und Dankbarkeit für dieses neu geschenkte Leben? Matthias verstand es nicht. Er, der mit Tim alt werden wollte, der ihm seine Wünsche immer von den Lippen abgelesen hatte. Ihm hatte Tim es doch zu verdanken, dass er überhaupt wieder zu Kräften gekommen war! Täglich hatte Matthias Obst eingekocht, weil sein Freund die Krankenhauskost verabscheute. Er hatte ihn aufs Laufband gepeitscht: »Egal, wie beschissen du dich fühlst, tu es einfach!« Matthias’ Familie hatte ihn besucht, sich täglich erkundigt – und jetzt das.
    Matthias konnte es nicht verzeihen. Er würde zu Tim halten, aber künftig nur als guter Freund, nicht mehr als Lebenspartner.
    Ein Dreivierteljahr raste dahin. Matthias verliebte sich in Paul, einen Künstler. Tim genoss das Leben wieder in vollen Zügen. Weihnachten 2008 flog er nach San Francisco, wollte dort Silvester feiern, doch er musste ins Krankenhaus, Lungenentzündung. Die Ärzte stellten fest, dass die weißen Blutkörperchen im Keller waren. Oh, Scheiße, es passiert wieder, dachte Tim und erinnerte sich an Hütters Worte: Ein Rückfall sei möglich, wenn auch nur eine einzige seiner alten Immunzellen in irgendeiner Nische überlebt hatte.
    Zurück in Berlin, durchlebte er seinen Alptraum erneut: Chemotherapie, Ganzkörperbestrahlung, Stammzelltransplantation. Der junge deutsche Spender musste wieder aus New York kommen. Brown betete, dass das Flugzeug nicht abstürzte.
    Zunächst schien die Therapie anzuschlagen. Doch plötzlich häuften sich unvorhersehbare Komplikationen. Seine neuen Stammzellen produzierten nicht genug Blutplättchen, sodass seine Blutgerinnung versagte. Er blutete zuerst ins rechte Auge ein, dann ins linke, wurde vorübergehend blind. Sein Denken verlangsamte sich, seine Bewegungen auch. Eine Gehirnentzündung, Ursache unbekannt. Die Neurochirurgen punktierten sein Gehirn, mit schweren Folgen. Luft drang ein, füllte die Hohlräume, presste die Hirnsubstanz zusammen. Tim wusste nicht mehr, wo er war und wie er hieß. Seine Gliedmaßen waren gelähmt. Bald fiel er in einen komaähnlichen Zustand. Immer rascher verfiel sein Körper.
    Die Ärzte gaben auf. Gero Hütter sagte zu Matthias: »Ich glaube nicht, dass er es noch schafft.« Er fühlte sich machtlos, frustriert, musste zusehen, wie das Leben seines wichtigsten Patienten zerrann, und niemand am Krankenhaus wusste genau, warum.
    Matthias
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