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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Autoren: Bernhard Albrecht
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hatte – über Menschen, die resistent gegen Aids waren.
    Tim litt, daran bestand jetzt kein Zweifel mehr, unter akuter myeloischer Leukämie – Blutkrebs. In seinem Knochenmark wucherte ein Klon bösartiger Zellen, sie würden bald andere Organe befallen. Überlebenswahrscheinlichkeit ohne Chemotherapie: null Prozent. Er würde vier Zyklen brauchen. Doch nur jeder fünfte Patient war danach geheilt, die anderen würden einen Rückfall erleiden und dann eine Stammzelltransplantation benötigen.
    Genau hier lag die unglaubliche Chance: Hütter müsste einen Stammzellspender finden, der immun gegen Aids war. Die Chancen standen eins zu hundert. Vor der Transplantation würde das Immunsystem Tims mittels Zellgiften und Bestrahlung komplett zerstört – und damit auch jene weißen Blutkörperchen, die als trojanische Pferde für das HI-Virus fungierten.
    In die neuen Immunzellen aber – diejenigen des Spenders – könnte das Virus nicht mehr eindringen. Denn ihnen würde eine Andockstelle namens CCR5 fehlen, über die das HI-Virus normalerweise eindringen konnte. Als hätte jemand den Türknauf abgedreht.
    Tim Brown wäre dann der erste Mensch der Welt, der von seiner HIV-Infektion geheilt werden könnte.

    »Ist das wirklich so, wie du sagst?«, fragte Oberarzt Igor Blau, als sie nach der Visite auf dem Gang standen, und rieb sich den grauen Bart. »Ist da noch niemand draufgekommen?«
    »Ich habe die ganze Literatur durchforstet und nichts gefunden«, sagte Hütter.
    »Du weißt aber auch, dass solche Experimente oft gar nicht publiziert werden, wenn sie nicht funktioniert haben.«
    »Schon. Aber haben wir was zu verlieren?«
    Blau hob den Zeigefinger, als hätte er eine Eingebung, dann machte sich auf seinem Gesicht ein Lächeln breit.
    »Das ist genial! Lass uns sofort zum Chef gehen!«
    Es war das, wovor Hütter Angst hatte. Dass zu viele von der Idee hörten, dass sie ihn, den unbedeutenden Assistenzarzt, abschießen würden – so nannte man das im Jargon der Wissenschaft.
    Der Chefarzt trug den Titel »Direktor«. Er war Großbürger, ein Abkömmling einer Fabrikantendynastie, der Opern liebte und kurz vor der Pensionierung stand. Er regierte die Hämatologie im alten Stil, und manchmal fühlte sich Hütter an einen absolutistischen Herrscher erinnert. Blau fand das übertrieben – er hatte einen guten Draht zum Chef und achtete ihn für seine Erfolge. Gerade deshalb rechnete sich Hütter beste Chancen aus, mit Unterstützung Blaus seine Idee zu schützen. Der väterliche Oberarzt zeigte Solidarität mit denen, die sich noch bewähren mussten. Vielleicht lag es daran, dass Blau selbst vor wenigen Jahren als Überbleibsel der DDR-Zeit die Charité verlassen und sich neu behaupten musste. Hütter hatte lange unter ihm die Station geführt, sie verstanden sich ohne Worte. In Blau sah er seinen Mentor.
    Der Direktor würde den Daumen heben oder senken. Wenn er ihn senkte, würde Blau trotzdem einen Weg finden, darauf vertraute Hütter. Denn er stand in bestem Kontakt mit allen Stammzellspende-Organisationen in Deutschland.
    Dann saßen sie vor dem mächtigen Schreibtisch. Wie Hühner auf der Stange, dachte Hütter und erinnerte sich an sein Bewerbungsgespräch. Damals hatte er dem Direktor euphorisch die Hand hingestreckt, der aber hatte sie nicht ergriffen.

    »Das ist großartig«, sagte der Direktor. »Sie müssen da Tag und Nacht dranbleiben, Herr Hütter. Das machen wir, das lassen wir uns von niemandem wegnehmen!«
    Dann waren sie auch schon wieder aus der Tür, und Hütter, erleichtert, bat Blau, so lange wie möglich Stillschweigen über das Projekt zu bewahren. Vor allem einen Arzt wollte er so umgehen: Professor U., den Leiter der Abteilung für Stammzelltransplantation. Hütter war nur einmal mit U. aneinandergeraten, aber seit diesem Streit wusste er, mit diesem Mann würde er niemals zusammenarbeiten können. Damit sollte er recht behalten.

    Tim erstarrte innerlich, als er die Diagnose hörte. Er, der das Leben mit allen seinen Gefahren genommen hatte, stand jetzt am Abgrund und war nicht mal schuld. Matthias weinte mit ihm.
    Die Chemotherapie wurde zu einer existenziellen Erfahrung. Sie zerstörte nicht nur Tims Krebszellen, sondern auch sein Immunsystem. Während des dritten Zyklus überschwemmten Bakterien seinen Körper. Blutvergiftung. Seine Lunge füllte sich mit wässrigem Exsudat, er rang nach Luft, das Fieber stieg auf 41 Grad. Als die Ärzte ihn ins künstliche Koma versetzen
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