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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Autoren: Bernhard Albrecht
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Geschichten zu, in denen Ärzte sich selbst übertreffen – Ärzte, die ihren Beruf zumindest manchmal noch als Kunst begreifen.

Atmen
    A m 9. Dezember 2007 kam Pavninder Singh schon um drei Uhr nachmittags nach Hause. Er zog die Schuhe nicht aus, ging durchs Wohnzimmer direkt auf den Balkon. Die Luft war kalt und trocken, es war ein sonniger Wintertag. Singh hörte die Züge vorbeirauschen. 300 Meter nur, und er wäre auf den Gleisen, dachte er. Aber was, wenn der Zug ihn nur mitschleifte und er am Leben bliebe, ein Krüppel bis ans Ende seiner Tage? »Ich wollte, dass es tausendprozentig sicher funktioniert«, sagte er später.
    Singh ging zurück ins Wohnzimmer, blieb unschlüssig stehen, ließ den Blick umherschweifen. Wie traurig ihn das alles machte – das Sofa und die Sessel, blaues Blümchenmuster, sie hatten Decken darübergebreitet, damit man die Risse im Polster nicht sah. Der Fernseher, kein Flatscreen, ein 15 Jahre alter Kasten mit Flimmerbild. Nach indischen Verhältnissen war er reich – aber was nützte ihm das, wenn er jeden Euro umdrehen musste, bevor er ihn ausgab, in einem Land, in dem alle anderen mehr besaßen?
    Singhs Blick streifte das Foto auf dem Regal, das ihn und Inge vor dem Taj Mahal zeigte, auf einer Bank sitzend, auf der sich alle Hochzeitspaare fotografieren lassen. Ihr einziger Urlaub in sieben Jahren. Er fast noch ein Junge, aufrecht mit geschwellter Brust, ein stolzes Lächeln auf den Lippen, den Arm besitzergreifend um sie gelegt. Sie eine korpulente Frau, aschblondes Haar, für jeden sichtbar deutlich älter.
    Sie könne seine Mutter sein, hatte sein früherer Chef gesagt, warum die? Er würde ihm eine jüngere Frau suchen, eine, mit der er Kinder haben könne. Aber Singh hatte gesagt, er wolle nur diese eine.
    Er griff zum Telefon. Sie ging gleich ran: »Ist was passiert? Warum bist du schon zu Hause?« Inge sprach starkes Schwäbisch, er hatte lange gebraucht, bis er sie gut verstand. Sie war sofort beunruhigt, denn Singh kam sonst immer erst nach elf Uhr nachts nach Hause. Die freien Mittagsstunden verbrachte er üblicherweise im Tempel der Kleinstadt, nahe dem indischen Restaurant, in dem er arbeitete – Gemüse schneiden, kochen, Tische decken, abspülen, er war für alles zuständig. In seiner Mittagspause durfte er nicht dort bleiben, warum, hatte er nie gefragt. Vielleicht lag es daran, dass sein Chef und dessen Familie Hindus waren. Sie glaubten an viele Götter. Singh aber war Sikh, er betete den einen, allmächtigen Gott an, der nach seinem Glauben auch der Gott der Christen, Juden und Muslime war und den sie in Pandschabi, der Sprache seiner Glaubensbrüder, Waheguru nannten – wunderbarer Lehrer, Schöpfer von allem.
    Vielleicht auch deswegen wollte sein Chef, dass Singh sich fernhalten möge von der hübschen Tochter, 13 Jahre alt. Singh hatte diese Anweisung immer befolgt, sie war ja fast noch ein Kind. Nur nicht an jenem 9. Dezember 2007.
    Was genau damals vorgefallen war, wissen nur er, das Mädchen und der Onkel des Chefs, der sie mittags in der Küche beisammen erwischte. Sie hätten nur geredet, erzählte Singh seiner Frau. Sie glaubte ihm. Aber der Onkel hatte das anders gesehen. Er hatte ihn aus dem Haus geworfen und ihm hinterhergerufen, er brauche sich dort nie wieder blicken lassen.
    Singhs Stimme erstickte fast, als er weitererzählte. Der Onkel habe ihn dann noch auf dem Handy angerufen, sagte er. »Er hat … meine Familie bedroht.« Denn im Punjab habe der Mann gute Kontakte zu den Behörden, er würde Singhs Mutter und seinen drei Geschwistern die Polizei auf den Hals hetzen.
    Inge sagte, er solle zu Hause bleiben, sie komme bald. Singh versprach es. Er solle sich keine Sorgen machen, sagte sie, der Mann habe bestimmt nur leer gedroht.
    Nur kurz nach dem Telefonat stand Singh vor dem Küchenschrank mit den Putzmitteln. Sein Blick fiel auf den Backofenreiniger. Er drehte die Flasche um, auf der Hinterseite prangten orangefarbene Warnlogos. »Bei Verschlucken sofort ärztlichen Rat einholen.« Singh dachte an die vielen Bauern in seiner Heimat, die Pestizide schluckten, wenn sie keinen Ausweg mehr sahen. Er glaubte, er würde sofort sterben, müsste nicht lange leiden.
    Er füllte ein Schnapsglas ab, führte es zu den Lippen, nippte und schluckte sofort. Es fühlte sich an, als würde jemand in seiner Speiseröhre ein Feuerzeug anzünden. Dann zerriss eine Feuersbrunst seine Brust, er zog hektisch die Luft ein und aus, ein Reflex, aber
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