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Passwort in dein Leben

Passwort in dein Leben

Titel: Passwort in dein Leben
Autoren: Katrin Stehle
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etwas Ähnliches wie Mitleid in seinen Augen. Dann dreht er sich um. »Schwester, die Spritze«, sagt er ruhig. »Die Patientin xc659 braucht eine höhere Dosis, sie fantasiert schon wieder.«
    Ich versuche, wegzulaufen, aber er hält mich fest. Ich sehe, dass seine Finger über und über mit Haaren bedeckt sind, wie bei einem Affen. Die Spritze erscheint dicht vor meinen Augen. Sie hat eine riesige, spitze Kanüle. Ich schreie und schlage wie wild um mich. Es wird dunkel. Als ich wieder wach werde, sitze ich in einer Gummizelle. Alles hier ist aus Gummi. Auch der Tisch und die Stühle. Oben, fast unter der Decke, befindet sich ein vergittertes Fenster, alles ist mit Gummi überzogen. Sogar das Gitter. Ich bin zu müde, um zu toben.
    Sie lassen mich heraus. Ich irre durch die Gänge, die alle gleich aussehen. Eisentür an Eisentür. Das Hemd flattert mir um die Beine.
    Plötzlich ein Licht. Jemand in einer Rüstung steht im strahlenden Lichtglanz. Ein Ritter. Ein Held. Ich laufe auf ihn zu. Erst als ich ankomme, klappt er das Visier hoch. Ralfs Gesicht sieht mich an, seine Augen. Dieses Grinsen, das nie über den Mund hinauszugehen scheint. »Ich bin gekommen, um dich zu retten«, sagt er.
    Sein Schloss ist wirklich ein Turm wie bei Rapunzel. Er ist sehr hoch, man sieht nicht einmal die Landschaft, wenn man nach unten schaut, nur Unendlichkeit. Wir sitzen zu zweit in einem winzigen Zimmer zwischen den Wolken. Den ganzen Tag muss ich ihm über das Haar streichen. Ich sehne mich nach der Gummizelle und den Mädchen mit den leeren Augen.
    Ein Geräusch. Ich schrecke auf. Bin wieder in diesem Keller. Plötzlich bringt ein Luftzug die Kerze zum Flackern. Vermutlich bin ich eingenickt. Oderhabe mich in diesem Zustand befunden, wo man nicht genau weiß, ob man eigentlich schläft oder wach ist. Die Gedanken machen sich selbstständig und werden zu einer Art Traumbild.
    Dies hier ist real. Ralf. Der in der Tür steht und mich ansieht.
    »Ein paar Dinge müssen einfach noch gesagt werden, ausgesprochen sein«, sagt er mit völlig monotoner Stimme. »Claras zehnter Geburtstag zum Beispiel.«
    Ich erinnere mich.
    Es gab Muffins und Cupcakes. Alle Mädchen aus unserer Klasse waren eingeladen und Claras gesamter Pfadfinderstamm. Wir haben mit Tatjana ein Picknick im Wald gemacht und Räuberspiele gespielt. Schnitzeljagd und Schatzsuchen. Später gab es ein Lagerfeuer und Tatjana hat russische Lieder auf ihrer Gitarre gespielt und gesungen. Ihre Stimme hat irgendwas tief in mir berührt. Ich erinnere mich, in den Sternenhimmel hinaufgesehen zu haben. Um mich herum der Geruch von Sommergras und Feuer. So also, dachte ich, ist das Leben. Ich liege auf der Erde und auf der anderen Seite, in Neuseeland, liegt vielleicht gerade ein anderes Mädchen. Vielleicht fühlt sie genau wie ich in diesem Moment, dass sie lebendig ist. Und da war so ein großes Gefühl in mir, Glück vielleicht oder Liebe.
    »Ihr habt mich völlig ausgeschlossen!« Ralf klingt nun anklagend, fast weinerlich.
    Es war der erste Geburtstag von Clara, wo wir das durchsetzen konnten, davor war er immer dabei. Schließlich haben ihre Eltern ihn extra von den Großeltern geholt. An allen früheren Geburtstagsfeiern von Clara saß Ralf am Rand herum und machte bei nichts mit. Ein paar der Mädchen sagten damals schon, dass sie nicht kommen, wenn der Freak dabei ist. Und auch ich fand es immer unangenehm, es war ein wenig so, als würde er allein durch seine Blicke einen Großteil der Freude einfach wegnehmen.
    »Und auch du wolltest mich nicht dabeihaben!« Wir haben zu dritt mit Claras Eltern geredet. Ich, Tatjana und Clara. Haben erklärt, dass wir keine Jungs dabeihaben wollen. Und dass Ralf sich immer so seltsam benimmt. Das Letzte habe ich gesagt, weil Clara sich nicht getraut hat.
    »Ich war noch klein. In dem Alter mochten wir gar keine Jungs«, versuche ich zu erklären.
    »Pfft«, macht er. »Du hättest ja wohl erkennen müssen, dass ich nicht bin wie die anderen.«
    Er dreht sich um, verschwindet. Die Tür geht zu.
    Die erste Chance, hier rauszukommen, habe ich wohl verspielt.
    In der Ecke höre ich wieder dieses Fiepen. Dann knabbern. Die Ratten machen sich anscheinend über das Brot her.
    Plötzlich habe ich das Gefühl, zu ersticken, nichtmehr atmen zu können. Es ist, als würden meine Glieder langsam taub werden. Spucke sammelt sich in meinem Mund, bildet einen Klumpen. Ich mache den Mund auf und nichts außer einem Krächzen kommt heraus.
    Und plötzlich
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