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Parasiten

Parasiten

Titel: Parasiten
Autoren: Marina Heib
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waren sie früh
international erfolgreich als Duo aufgetreten, spielten sogar vor dem Papst und
gekrönten Häuptern. Als sie älter wurden und neue Wunderkinder nachwuchsen, war
es etwas stiller um sie geworden. Beide gingen schließlich nach Deutschland,
Suworow studierte Geige in Bremen, Savchenko Klavier in Hamburg. In die Weltspitze
hatten sie es bislang nicht geschafft, aber seit ihren Abschlüssen
konzertierten sie auf einem guten Niveau, meist als Solisten, häufig aber auch
gemeinsam.
    Anna sah auf die Uhr. Sie waren schon fünfzehn Minuten über die
Zeit. Im Saal wurde leise mit den Füßen gescharrt und verhalten gehüstelt. Anna
grinste in sich hinein: Unerhörte fünfzehn Minuten Verspätung bei den
Klassikern entsprachen mindestens einer Stunde bei einem Rockkonzert. Bei den
Stones jedoch würden nun vermutlich die ersten Bierflaschen auf die Bühne
fliegen.
    Ein Mann mittleren Alters betrat das Podium, auf dem bislang nur ein
einsamer Flügel und ein leerer Klavierstuhl gewartet hatten. »Einen
wunderschönen guten Abend, meine Damen und Herren. Mein Name ist Karl Jensen,
ich bin der Künstlerische Leiter der ›Norddeutschen Musikabende‹ und heiße Sie
herzlich willkommen zum zweiten Konzert in unserer diesjährigen Spielzeit.«
    Kurzer Pflichtapplaus.
    »Leider muss ich Ihnen eine kurzfristige Programmänderung mitteilen.
Zu unserem allergrößten Bedauern kann Danylo Savchenko aus gesundheitlichen
Gründen heute nicht auftreten. Statt das Konzert ausfallen zu lassen, hat sich
Sofia Suworow freundlicherweise bereiterklärt, uns einen fantastischen
Soloabend zu bereiten. Wer seine Karten zurückgeben will, kann dies selbstverständlich
tun …« Jensen lächelte jovial. »Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass
Connaisseure wie Sie auf die seltene Gelegenheit verzichten wollen, die Ausnahmegeigerin
Sofia Suworow mit einem exzeptionellen Solo-Programm zu bewundern.« Jensen nahm
einen Zettel und warf einen kurzen Blick darauf. »Sie spielt für uns die sechs
Sonaten und Partiten von Johann Sebastian Bach sowie die Sonate für Violine
opus 27 von Eugène Ysaÿe. Vielen Dank.«
    Jensen ging unter verhaltenem Applaus ab. Nur ein Pärchen erhob sich
und verließ den Raum, um die Karten zurückzugeben. Alle anderen blieben. Anna
bedauerte Savchenkos Ausfall, denn er war nicht nur ein hervorragender Pianist,
sondern sah auch noch verdammt gut aus mit seinen dunklen Augen und den
schwarzen Locken, die ihm beim Allegretto in die Stirn fielen. Doch sie war
über eine halbe Stunde aus Hamburg hergefahren, da wollte sie wenigstens die
Suworow sehen. Außerdem mochte sie die Sonate von Ysaÿe.
    Sofia Suworow betrat unter Applaus die Bühne und verbeugte sich. Die
zierliche junge Frau trug ein nachtblaues Abendkleid im Empire-Stil. Ihre
aschblonden, langen Haare hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt. Sie nahm die
Geige hoch, legte sich ihr Läppchen unter die linke Kinnhälfte, atmete tief
durch und begann.
    Sie spielte schlecht. Sie spielte geradezu erbärmlich. Unkonzentriert,
technisch weit unter ihrem Niveau, von Ausdruck keine Spur. Im Saal wurde es
unruhig, der Beifall geriet spärlich. Sie kam kein zweites Mal auf die Bühne
zurück, um sich zu verbeugen. Der Saal war schnell geleert. An der Garderobe
tuschelte und raunte das enttäuschte Publikum. Die meisten gingen nach Hause,
einige wenige tranken noch ein Glas Sekt oder Orangensaft und ereiferten sich
in Spekulationen.
    Anna schlängelte sich auf dem Weg zur Garderobe zu dicht an wild
gestikulierenden Kritikern vorbei und bekam dabei versehentlich ein Glas
Orangensaft auf ihre neue Bluse gekippt. Die verantwortliche Frau entschuldigte
sich vielmals und wollte Anna ihre Adresse für die Rechnung der Reinigung
geben. Anna wiegelte ab und ging zur Damentoilette, wo sie kurzerhand den Fleck
herauswusch und die Bluse unter den Händetrockner hielt. Draußen wurde es
allmählich ruhig, auch die Letzten schienen sich nach ausgiebiger Tratscherei
auf den Nachhauseweg gemacht zu haben.
    Anna streifte ihre halbwegs trockene Bluse über, als sie etwas entfernt
laute und aufgeregte Stimmen hörte. Sie öffnete die Tür des Waschraums und ging
zurück auf den Flur. Nun waren die Stimmen deutlicher. Sie kamen aus der nur
angelehnten Tür, die hinter den Bühnenraum führte. Eine Frau mit
osteuropäischem Akzent schrie: »Wo ist er? Was habt ihr mit ihm gemacht?« Sie
klang hysterisch.
    Eine Männerstimme, die Anna als die Stimme von Karl Jensen
identifizierte,
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