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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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jeglicher Art von Schikanen. Ich wuchs wohlbehütet bei meiner Mutter, meinen Großeltern mütterlicherseits, Onkel Jarek und Pudel Ben auf. Trotzdem bin ich bereit, alles zu verlassen.
    Ich biege in die Straße ein, in der sich mein Gymnasium befindet. In dem kleinen Laden an der Ecke kaufe ich mir für einen Fünfer ein Brötchen mit Fleischsalat, Ei, Gurke und Kofola. Das alles verzehre ich im Stehen, das Frühstücksradio spielt leise aus dem Volksempfänger. Der Laden lebt von dem, was die Schüler aus unserem Gymnasium dort ausgeben. Sie schwitzen jetzt alle in den Klassenräumen. Alle außer mir. Die Ost-Cola namens Kofola trinke ich aus. Ich muss mich stark machen, stark zum Nachdenken, mir eine Ausrede überlegen, weshalb ich so spät komme. Ich muss mich wappnen, um den Anblick meines Freundes in der Pause auszuhalten, um nicht zu schreien, dass es mir entsetzlich leidtut. So kaufe ich mir noch einen braunen und einen rosa Indianer und stopfe sie mir rein, dass der Eierlikör aus ihrem Inneren nur so trieft. Ich lege das restliche Geld auf die Theke. Meine Tagesration ist aufgefressen. Egal, heute ist ein besonderer Tag.
    Auf dem Gymnasium ist fast alles verboten. Bluejeans, transparente Klamotten, ausländische Aufschriften, tiefe Dekolletees, kurze Röcke, geschminkte Augen und Lippen, runde Taschen, Schuhe mit hohen Absätzen und so weiter und so fort. Der Direktor, ein hagerer unsympathischer Mann mit einer Hakennase, den man den »alten Nazi« nennt, ist der Meinung, die Lehrbücher, die das Eigentum des sozialistischen Staates sind, dürften nicht durch runde Taschen beschädigt werden. Die Ecken der Bücher würden sich abnutzen, meint er.
    Jeans zu tragen ist ein schweres Verbrechen. Trotzdem gibt es Mutige, die sich trauen. Entweder sie können den ganzen Tag den coolen Macker spielen, oder sie werden erwischt und gezwungen, sich umzuziehen. Das ist weniger cool. Ich habe es ein Mal versucht. Die Klassenlehrerin bemühte sich, mich zu blamieren. Sie ist eine überzeugte Kommunistin, also eine komanço , und trägt, damit keiner merkt, dass ihre Pupillen in alle Richtungen schielen, eine überdimensionale getönte Brille, mit der sie aussieht wie ein Insekt. Wenn sie lacht, erinnert sie mich an jemanden, der die Treppe hinunterfällt und mit einem Baguette bremst.
    Ich musste das verbotene, kriminelle Kleidungsstück vor allen Schulkameradinnen ausziehen und den Rest des Tages in ihrem weißen Kittel verbringen. Für mich war es nicht tragisch. Erstens sind wir eine Mädchenklasse, und zweitens kam es uns gelegen, dass die schielende Vogelscheuche mit meiner Hose beschäftigt war, statt uns mit Chemie zu malträtieren. Als die Klassenlehrerin bei meinem Strip feststellen musste, dass ich auch eine Unterhose mit dem Aufdruck »Wednesday« trug und gewillt war, diese, wie es sich gehört, ebenfalls auszuziehen, schrie sie wild: »Stopp, stopp, stopp!«
    Wir haben uns sehr amüsiert.
    In den gemischten Klassen ist das öffentliche Ausziehen natürlich demütigend. Die mentalen Verbote halte ich jedoch für weit gefährlicher. Die machen uns klein. Das Selbstwertgefühl sinkt auf null, das Bedürfnis, etwas Eigenes, Kreatives auf die Beine zu stellen, ist unerwünscht, es gilt als falsch und egoistisch. Von klein auf wurde uns beigebracht, die Klappe zu halten, in Marschrichtung zu laufen, nicht zu laut, nicht zu leise, nicht zu stark und nicht zu schwach zu sein. Uns niemals abzusondern.
    Ich stehe vorne bei der Physiklehrerin und versuche ihr zu verklickern, dass ich verschlafen habe. Sie ist erstaunlich milde mit mir, notiert es zwar in ihrem Buch und verlangt von meiner Mutter eine unterschriebene Entschuldigung, lässt aber ansonsten meine billige Ausrede durchgehen. In diesem Moment taucht in der Tür der Kopf unserer Klassenlehrerin auf.
    »Entschuldige die Störung, Magdo. Dürfte ich dir die Hrózová kurz entführen? Wo ist sie denn überhaupt?«
    Ihre schwarze Brille kreist. Sie sucht mich. »Ach da?! Ach. Wird sie gerade geprüft?«
    »Die Hrózová hat sich heute entschlossen, eine Stunde später in der Schule zu erscheinen.«
    Die blöde Kuh verpetzt mich. Sie weiß ganz genau, in welche Schwierigkeiten sie mich bringt. Suchánkovás schwarze Brille zerspringt beinahe vor Freude. Und wieder mal gibt es einen wunderbaren Grund, mich zu schikanieren. Sie sagt nichts, macht nur eine perfide Bewegung mit dem Zeigefinger. Ein langer spitzer, knallrot lackierter Hexenfingernagel befiehlt mir
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