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Panic

Panic

Titel: Panic
Autoren: Mark T. Sullivan
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langsamer, begann zu schwitzen und ließ die Augen im dämmrigen Herz des Waldes umherschweifen, um die bizarren grau-schwarzen Silhouetten im Schnee einzuordnen. Mein Verstand spielte mir offenbar Streiche. Das schwarze Dreieck rechts von mir, wahrscheinlich ein halb im Schnee versteckter Fels, wurde zur Schnauze der Wölfin, die sich an mir rächen wollte. Ein Geflecht aus dünnen, dunklen Linien – ein Zweig? Zwei ineinander verschlungene Schösslinge? – wurde Ryan selbst, der Pfeil und Bogen hielt.
    Die Beweise häuften sich; hier konnte ich im wahrsten Sinne des Wortes meinen Wahrnehmungen nicht trauen. Also schloss ich die Augen und wiederholte die Abfolge von Erinnerung und rhythmischem Atmen, die ich am Abend zuvor befolgt hatte. Bald spürte ich, wie mein Herzschlag Wellen aussandte, die auf Gegenstände stießen und mir widerspiegelten, von welchen Energien ich umgeben war.
    Ich öffnete die Augen und schlich weiter durch die Dunkelheit, während ich die mutierenden Schatten um mich her mit dem Herzen prüfte. Auf dem Abhang über mir stand eine Hirschkuh im Wind und äste. Noch zwei Schritte, dann nahm sie meine Witterung auf und sprang schnaubend davon. Im Morgengrauen fühlte ich in einem Kieferndickicht unter dem Schnee eine gewichtige Kraft und wusste, hier schlief ein Bär. Noch einen knappen Kilometer weiter, und die Sonne schien auf die Felskuppen jenseits des Dream River und sandte ihre lichten Strahlen und ihre Kraft durch den Wald.
    Links über mir, verborgen in den Zweigen einer majestätischen Gelbkiefer, spürte ich ein kleines bekümmertes Wesen, das die seltsame Fähigkeit besaß, nicht nur die Weite der Landschaft zu sehen, sondern jeden einzelnen Grashalm darin. Die junge Krähe schwang sich laut krächzend vom Baum. Und einen Moment lang schloss ich die Augen und flog mit ihr, ließ mich vom Aufwind in die Höhe tragen, bis ich den Wald von oben sah, wie neulich im Flugzeug.
    Als ich die Augen wieder öffnete, schien zwar noch immer herrlich und strahlend die Sonne, dennoch füllte zu meinem Erstaunen eine Art feiner, kristalliner Schnee die Luft. Ich hielt das Gesicht in den knisternden, blauweißen Dunst und erwartete eisige Nadelstiche. Stattdessen spürte ich eine Liebkosung wie von warmen Federn auf Wangen, Nase, Mund und Augen. Der Schneefall folgte einem bestimmten Muster, schien gleichsam um unsichtbare Gegenstände herumzufließen und sich wieder zurückzuziehen, fast wie die Meeresbrandung am Ufer Geröll ein- und ausatmet. Und doch sah ich durch die weichen Flocken noch immer die sonnenbeschienenen Bäume, die überhängenden Schneewehen und die Krähe, die eine Schleife gezogen hatte und wieder in die Schlucht geflogen war, auf ihr Nest zu. Sie schlug mit den Flügeln und ließ sich wie ein Kajak auf der Strömung des flockigen Schnees dahintreiben. Voller Ehrfurcht erkannte ich, dass ich mit den Augen der Krähe sah, dass ich zum ersten Mal in diesem Albtraum einen Verbündeten hatte.
    Kaum streiften die warmen Kristalle meinen Körper, wirbelten sie von mir fort. Obwohl ich reglos dastand, verursachte ich einen Strudel in diesem flaumigen Fluss. Ich ging einen Schritt. Die Wirbel dehnten sich aus, bauten sich vor mir zur Woge auf. Einige hundert Meter weiter entstand in den Schneeflocken so etwas Ähnliches wie der Ansatz einer Schwellung. Kein Lüftchen regte sich, und ich sah zu, wie die Schwellung wuchs, bevor eine Hirschkuh und ihr Kalb hervortraten.
    So ist es also, wenn man den Verstand verliert.
    Den Großteil des Morgens schlich ich durch den Wald, den Bogen in der Linken, einen Pfeil in der Rechten, und lernte die Wogen und Wellen zu deuten, die sich in der Faserung des puderweichen Schnees abzeichneten.
    Gegen Mittag glaubte ich meine Sinne so weit steuern zu können, dass ich mich in dieser Welt des Wahnsinns zurechtfand, aber sie auch wieder hinter mir lassen konnte, sobald meine Aufgabe erfüllt war. Solchen Täuschungen sitzen wir oft in Krisenzeiten auf, aus Unwissenheit. Und doch sind wir nur in Krisenzeiten, unter zunehmendem Stress bereit, die Schleier zu lüften, die uns von tieferen Daseinsschichten, von Selbsterkenntnis und Schmerz trennen.
    Meine Streifzüge hatten mich über ein Felsplateau geführt, über eine der vielen kleinen Lichtungen, die diesen Teil des Reviers prägten. Plötzlich irritierte mich in der äußersten linken Ecke meines Blickfelds, dass der Puderschnee keine Beule bildete, sondern im Gegenteil wie durch ein gewaltiges Vakuum
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