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Pandaemonium - Die Letzte Gefahr

Pandaemonium - Die Letzte Gefahr

Titel: Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Autoren: Alexander Odin
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nicht genau wusste, was es war, was sie für ihn empfand.
    Im Grunde war es ein allgemeiner Charakterzug von ihr: Sie wusste eigentlich nie, was sie empfand.
    Albträume vom schrecklichen Tod ihres Vaters suchten sie in der Nacht immer wieder heim, und die Gedanken daran ließen sie auch am Tage nicht los. Daher hatte ihr Therapeut eine Posttraumatische Belastungsstörung – kurz PTBS genannt – bei ihr diagnostiziert. Sie spürte, dass eine merkwürdige Veränderung in ihr vorging. Es war ein langer, schleichender Prozess, in dem sie steckte. Im Verlauf dieser Verwandlung entstand in ihr das Gefühl, dass sie sich umso mehr von ihren Mitmenschen entfremdete und erkaltete, je stärker sie versuchte, ihre Emotionen zu unterdrücken, um dadurch ihren Erinnerungen zu entfliehen.
    Wie konnte sie da mehr als Freundschaft für Rafael empfinden? Er war immerhin der Einzige in der Schule, mit dem sie sich überhaupt traf. Den Kontakt zu alten Freundinnen in Charlottenburg hatte sie abgebrochen. Anders als all die anderen, die ihr auf ungeschickte Weise zu helfen versuchten, bohrte er nicht immer wieder nach. Er ließ sie weder übermäßiges Mitleid spüren, noch gab er ihr das Gefühl, sie hätte einen an der Klatsche.
    In der zweiten Etage befand sich der Food Court . Ein gastronomischer Betrieb reihte sich dort an den nächsten: Restaurants aller Art, Fast-Food-Ketten, asiatische und deutsche Imbissstationen, Kaffeebars. Sie alle waren um diese Uhrzeit gut besucht. An den Tischen saßen Familien, Paare und Gruppen, die sich unterhielten, aßen und tranken.
    »Hast du Lust auf den China-Man dort?«, fragte Rafael, blieb kurz stehen und deutete zu einem etwas weiter entfernten Asia-Imbiss.
    »Gute Idee«, antwortete Naomi.
    Rafael berührte sanft ihren Ellenbogen, dann gingen sie weiter. Während sie neben ihm schritt, drehte Naomi ihren Kopf ein wenig zu ihm hinüber. Sie wollte nicht, dass er bemerkte, wie sie ihn musterte. Rafael war nicht der Junge, in den sich jedes Mädchen sofort unsterblich verliebte. Er war von seinem Wesen her eher zurückhaltend. Sie registrierte, dass seine Klamotten mit den schweren Boots und dem Karohemd zwar modern waren, aber nicht stylish. Ihr gefiel sein dichtes, lockiges braunes Haar, das wild aussah und ihm etwas Verwegenes verlieh, ebenso wie seine breite Nase, die für sein ovales Gesicht etwas zu markant war.
    Sie waren nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt, da entdeckte Naomi auf der Rolltreppe einen Mann, der einen dunkelblauen Mantel und einen beigefarbenen Hut trug. Sie erstarrte und blieb abrupt stehen. Einen Augenblick später rannte sie los.
    Sie hörte schon nicht mehr, wie Rafael ihr hinterherrief: »Wo läufst du denn hin?«, als sie zur Rolltreppe eilte. Dort angekommen, schubste sie einen jungen Mann beiseite, der ihr nachschrie: »Ey, spinnst du!« Rasch drängte sie sich zwischen Leuten hindurch, immer weiter die Rolltreppe hinunter.
    Als sie eine Etage tiefer war, sah sie in einem der Gänge, wie der Mann mit dem Hut schnellen Schrittes eine Ladenzeile entlangging. Entschlossen hetzte sie hinter ihm her. Aber in einer Menschentraube verlor sie ihn aus den Augen. Schließlich blieb sie stehen und schaute sich um. Wo war er? Dann sah sie ihn durch die Scheiben eines Sportgeschäfts. Sie betrat den Laden und lief auf ihn zu. Er stand mit dem Rücken zu ihr an einem Kleiderständer mit Sportbekleidung und blickte gerade auf das Preisschild einer Jogging-Jacke.
    »Papa!?«, fragte Naomi. Ihre Stimme zitterte.
    Der Mann reagierte nicht. Naomi ging noch einen Schritt näher auf ihn zu. Er trug den verwaschenen, fast zerschlissenen Trenchcoat, den ihr Vater so sehr liebte und den ihre Mutter, als sie noch zusammen waren, am liebsten in der Altkleidersammlung entsorgt hätte. Den Hut mit der breiten Krempe hatte Naomi ihm vor ein paar Jahren zu seinem Geburtstag geschenkt.
    »Papa!«, sagte sie jetzt mit Nachdruck.
    Der Mann hob seinen Kopf und drehte sich langsam zu ihr um.
    Für einen Moment sah sie das Gesicht ihres Vaters: das runde, etwas zu bleiche Gesicht ohne Kanten, das nicht zu altern schien; die stahlblauen Augen; die schmalen Lippen, die nicht so richtig zum Rest passen wollten und ihm eine gewisse Strenge und Verbissenheit verliehen, sobald er sie zusammenpresste – eine Angewohnheit, die er immer zeigte, wenn er über etwas nachdachte.
    Du lebst und bist nicht tot! , hörte Naomi sich sagen. Aber ihr Mund blieb verschlossen; es war nur die Stimme in ihrem
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