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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan
Autoren: Rot ist mein Name
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Goldenen Horns versammelte oder in Booten herbeikam, sah
staunend, wie die riesige Uhr geräuschvoll und in Begleitung einer
schrecklichen Musik arbeitete, wie sich die menschengroßen Statuen und die Bilder
mit sinnvollen Bewegungen und taktgerecht zur Melodie um sich selbst drehten,
als seien sie von Allah selbst und nicht von der Hand seiner Knechte
geschaffen, und sie hörten, wie die Uhr mit glockengleichen Schlägen ganz
Istanbul die Zeit verkündete.
    Kara und Ester erzählten mir jeder
für sich, daß die Uhr einerseits beim niederen Pöbel und der törichten Menge
der Istanbuler grenzenlos bewundert wurde, andererseits aber, weil sie die
Macht der Ungläubigen zur Schau stellte, zu Recht für unseren Padischah und für
die ganz dem Glauben ergebenen Eiferer zu einer Quelle der Beunruhigung
geworden war. Zu einer Zeit, als Gerüchte dieser Art üppig wucherten, wachte
Sultan Ahmet, der zukünftige Herrscher, eines Nachts von Allah inspiriert auf,
griff nach seinem Morgenstern, begab sich vom Harem zum Inneren Garten und
schlug die Uhr und ihre Statuen in tausend Stücke. Jene, die uns die
Nachrichten und die Gerüchte überbrachten, fügten noch hinzu, unser Padischah
habe im Schlaf das gesegnete, lichtumkränzte Antlitz unseres heiligen Propheten
erblickt, und der Gottgesandte habe ihn gewarnt, daß er, der Herrscher, von
Allahs Willen abweichen werde, falls er gestatte, daß seine Untertanen Bilder
bewunderten, und, noch schlimmer, solche, die den Menschen zum Vorbild nahmen und
mit der Schöpfung Allahs wetteiferten, woraufhin der Sultan noch im Traum nach
seinem Morgenstern gegriffen habe. So ungefähr ließ unser Padischah den Vorfall
durch seinen treuen Chronisten aufzeichnen. Er gab dieses Buch, Die
Quintessenz der Chroniken, den Kalligraphen gegen viele Beutel voll Gold
in Auftrag, doch die Buchmaler durften es nicht illustrieren.
    So welkte die rote Rose der Lust an
der Malerei und der Illustration, die vom Land der Perser beseelt ein
Jahrhundert lang in Istanbul geblüht hatte. Der Zwiespalt zwischen den Methoden
der alten Meister von Herat und denen der fränkischen Meister führte nur zu
endlosen Streitereien und unlösbaren Fragen unter den Illustratoren, nie aber
zu einer Einigung. Denn das Bild wurde aufgegeben, und man malte weder in
östlicher noch in westlicher Manier: Die Illustratoren erhoben sich nicht im
Zorn, sondern fanden sich ohne Aufsehen nach und nach traurig und ergeben mit
dieser Lage ab, wie sich alte Menschen mit einer Krankheit abfinden. Weder ihre
Neugier noch ihr Vorstellungsvermögen trieb sie an zu erfahren, was die großen
Altmeister von Herat oder Täbris erreicht hatten, denen sie einst voller
Bewunderung gefolgt waren, oder die fränkischen Meister, deren neue Methoden
sie mit einer Mischung aus Neid und Haß sehnlichst hatten nachahmen wollen. Es
schien, als sei das Bild verwaist und allein gelassen, wie man nachts die Türen
der Häuser verschließt und die Stadt der Finsternis überläßt. Daß die Welt
früher einmal ganz anders ausgesehen hatte, war erbarmungslos in Vergessenheit
geraten.
    Meines Vaters Buch blieb leider
unvollendet. Die fertigen Seiten wurden aufgehoben, wo Hasan sie hatte fallen
lassen, und zur Schatzkammer gebracht. Dort ließ sie ein tüchtiger,
pedantischer Bibliothekar mit einigen anderen zusammenhanglosen Bildern aus der
Buchmalerwerkstatt einbinden, so daß sie auf verschiedene Sammelalben verteilt
wurden. Hasan floh auf Nimmerwiedersehen aus Istanbul. Doch Şevket und
Orhan vergaßen nie, daß nicht Kara, sondern dieser Onkel den Mörder meines
Vaters umgebracht hatte.
    Zwei Jahre nachdem Altmeister Osman
blind geworden war, nahm Storch seine Stelle als Erster Illustrator ein.
Schmetterling, dessen Talent mein seliges Väterchen gleichfalls sehr bewundert
hatte, widmete den Rest seines Lebens dem Entwerfen von Ornamenten für
Teppiche, Stoffe und Zelte. Die jungen Gesellen der Buchmalerwerkstatt
beschritten den gleichen Weg. Niemand verhielt sich so, als sei es ein großer
Verlust, die Malerei aufzugeben. Vielleicht, weil niemand ein wahres Abbild
seines eigenen Gesichts gesehen hatte.
    Mein ganzes Leben lang habe ich den
heimlichen Wunsch gehegt, daß zwei Bilder gemalt werden – was ich niemandem
sagen konnte:
    1. Ich wollte gern ein Bildnis von
mir malen lassen. Doch ich wußte auch, daß die Illustratoren des Padischahs
trotz aller Mühe nicht dazu imstande sein würden, denn selbst wenn sie meine
Schönheit erkennen sollten, wie sie
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