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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan
Autoren: Rot ist mein Name
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Liebe, die sich in der engen Schlucht zwischen Leben und Tod, Verbot
und Paradies, Hoffnungslosigkeit und Scham niederließ, ihre Farbe, sie
bildeten auch den Vorwand für sie. Bis Kara, mein geliebter Ehemann, eines Morgens
neben dem Brunnen umsank und am Herzschlag starb, liebten wir uns
sechsundzwanzig Jahre lang jeden Mittag, während die Sonnenstrahlen durch die
Ritzen des Fensterladens drangen und wir in den ersten Jahren auf das fröhliche
Schwatzen von Şevket und Orhan horchten, und wir nannten es stets »die Wunden
salben«. Auf diese Weise konnten meine eifersüchtigen Söhne, die ich davor
bewahren wollte, von den Launen und der Eifersucht eines rauhen, schwermütigen
Vaters bedrängt zu werden, noch jahrelang in den Nächten mit mir im gleichen
Bett schlafen. Alle vernünftigen Frauen wissen, daß es viel schöner ist, mit
den eigenen Kindern umschlungen zu schlafen als mit einem Ehemann, den das
Leben gebeugt und mißhandelt hat.
    Wir, ich und die Kinder, sind
glücklich geworden, Kara nicht. Der erste, offensichtliche Grund dafür war die
niemals ganz geheilte Verletzung an Hals und Schulter, wodurch er, wie ich
andere über meinen geliebten Ehemann reden hörte, ein »Krüppel« geworden war.
Doch abgesehen von seiner äußeren Erscheinung wurde sein Leben dadurch nicht erschwert.
Ja, ich bekam sogar zu hören, daß andere Frauen, die ihn von weitem sahen,
meinen Ehemann ansehnlich fanden. Doch Karas rechte Schulter hing immer
tiefer, und sein Hals blieb merkwürdig schief. Manchmal kam mir auch ein Gerede
zu Ohren, daß eine Frau wie ich nur einen Mann heiraten könne, den sie unter
sich stehen sah, und Karas körperliche Behinderung im gleichen Maße der Anlaß
für seine Melancholie wie auch die heimliche Ursache unseres Glücks sei.
    Vielleicht gab es, wie bei jedem
Gerede, auch hierin eine Spur von Wahrheit. Wie sehr ich mich vom Schicksal
benachteiligt fühlte, weil ich nicht auf einem wunderschönen Pferd aufrecht und
von Sklaven, Zofen und Knechten umgeben durch die Straßen Istanbuls reiten
durfte, wie es sich Ester stets für mich vorgestellt hatte, so sehnte ich mich
von Zeit zu Zeit auch nach einem tapferen Ehemann, der aufrechten Hauptes
siegesgewiß in die Welt hinausschaute.
    Kara blieb ein Melancholiker, aus
welchem Grund auch immer. Da sein Kummer in den meisten Fällen offenbar nichts
mit seiner Schulter zu tun hatte, begann ich an einen Trauerdämon zu glauben,
der irgendwo in einem geheimen Winkel seiner Seele hockte und ihm selbst den
Augenblick höchster Liebeslust mit Trübnis tränkte. Um diesen Dämon zu
besänftigen, trank er manchmal Wein, dann wieder griff er zu den Büchern,
schaute sich die Bilder an und war mit der Malkunst beschäftigt, oder er
verbrachte Tage und Nächte mit den Illustratoren und lief mit ihnen schönen Knaben
nach. Wie es Zeiten gab, in denen er unter den Illustratoren, Kalligraphen und
Poeten seinen Spaß an Wortspielen, Doppeldeutigkeiten, Andeutungen, Metaphern,
schönen Knaben und schmeichlerischen Spielen fand, so gab es auch Zeiten, in
denen er alles vergaß und sich ganz der Tätigkeit des Sekretärs und
staatlichen Schreibers unter der Aufsicht Süleyman Paschas des Schiefen widmete,
in dessen Dienste er aufgenommen worden war. Als unser Padischah vier Jahre
später starb und sein Nachfolger auf dem Thron, Sultan Mehmet, den Künsten den
Rücken kehrte, verwandelte sich Karas Begeisterung für das Bild und die
Illumination von einem offen bekannten Vergnügen zu einem geheimnisvollen Erleben
allein hinter verschlossener Tür. Hin und wieder öffnete er eines der Bücher
meines seligen Vaters und betrachtete betrübt und schuldbewußt ein Bild, das
während der Timuriden-Herrschaft in Herat entstanden war und, ja, Şirin
zeigt, die sich in Hüsrev verliebt, als sei es nicht mehr Teil eines
glücklichen Spiels der Talente, das man noch immer in höfischen Kreisen
spielte, sondern ein süßes Geheimnis, das längst den Erinnerungen
anheimgefallen war.
    Im dritten Jahr nach seiner
Thronbesteigung sandte die Königin von England unserem Padischah eine
mirakulöse Uhr, die ein blasebalgbetriebenes Musikinstrument enthielt. Die aus
dem Schiff entladenen Teile, die Räder, Abbildungen und Statuen für die
riesige Uhr und die englische Abordnung wurden auf einen Abhang im Inneren
Garten mit Blick auf das Goldene Horn gebracht, wo man wochenlang mit dem
Zusammensetzen des Werkes beschäftigt war. Die Menge, die sich zum Gaffen an
den Hängen des
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