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Palast der Schatten - historischer Kriminalroman

Palast der Schatten - historischer Kriminalroman

Titel: Palast der Schatten - historischer Kriminalroman
Autoren: Gmeiner-Verlag
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selbst zu Sätzen, Stimmungen, Bildern. Simons Augen leuchteten.
    Â»Woher hast du das, Junge? Deine Stimme ist klar und dein Rhythmus passt zum Film. Du kommentierst nicht zu früh und nicht zu spät. Die meisten Erklärer reden geschwollen daher. Oder sie sprechen undeutlich und ohne Zusammenhang. Manche betonen falsch bis zur Lächerlichkeit. Sie erzählen seelenlos. Oder gelangweilt. Du aber bist mit dem Herzen dabei. Du kennst viele Wörter und steckst voller Ideen. Du hast selbst den dummen Lampenfilm spannend gemacht. Das ist sehr gut, Theo. Du lebst in der Leinwand, wohnst in den Palästen der Reichen, im Keller der Verbrecher, du reist nach Australien und Indien. Du kommentierst und hinterlässt im Gedächtnis der Zuschauer eine unauslöschliche Spur. Du lässt sie vor Lachen platzen oder ihre zu Eis gefrorenen Tränen fließen. Tränen, die sich im Schutz der Dunkelheit ihren erlösenden Weg bahnen. Ja, Theo, im Dunkeln darf man weinen.
    Aber du musst lernen, nicht zu viel zu erklären. Erkläre niemals zu viel. Lass den Menschen Raum für ihre Fantasie. Du siehst im Kino, was du sehen willst, nicht das, was man dir zeigt. Unsere Fantasie zaubert die Handlung. Sie schwebt wie der Goldregen einer Sternschnuppe in tausend Lichtpunkten über uns. Und jeder noch so kleine Lichtstern findet eine Seele, die ihn aufnimmt. Jeder von uns sucht sich aus dem Bilderhagel etwas aus, fügt es auf seine eigene Weise zusammen und zieht eigene Schlüsse daraus. Hunderte von Deutungen sind möglich und alle sind richtig.« Simon legte die Hand auf seine Schulter. »Denke immer daran. Ein Filmvorführer ist ein Zauberer. Er lebt im Land der Wunder. Die Films sind Märchen und Träume. Sie helfen den Menschen, mit der Wirklichkeit zurechtzukommen. Der Zuschauer will träumen und fühlen. Im Kino, Theo, weinen selbst die Männer. Die Dunkelheit im Saal, die vorübergleitenden Schatten auf der leuchtenden Leinwand, die Musik, all das versetzt uns in einen Traum. Wir sind den Bildern verfallen wie denen, die wir im Schlaf sehen. Doch zu viele Worte können den Traum zerreißen. Die Menschen suchen einander, Theo, aber sie wissen nicht, wen sie suchen – und dann sitzen sie plötzlich im verdunkelten Saal und sehen das Gesicht auf der Leinwand, von dem sie geträumt haben. Sie tauchen aus dem Lärm ihres Lebens unter, gesellen sich zu den Schatten und verflüchtigen sich in ihnen. Die Lautlosigkeit der abrollenden Szenen, dazu die unsichtbare Musik machen diesen Zauber aus. Die Musik, Junge, ist viel wichtiger als das Wort. Ohne Musik wirkt ein Film trostlos und beklemmend. Es ist, als ob du unter lauter Taubstummen säßest. Die Szenen wirken lächerlich, mechanisch, ohne Herzenswärme. Der Traum zerbricht. Es ist, als würdest du dir in einem Tanzsaal die Ohren zustopfen und die Tanzenden beobachten. Sie würden dir lächerlich vorkommen.
    Das Publikum will Musik. In meinem Heimatdorf fand an einem Wochenende eine Saalkinovorstellung statt. Der Vorführer hatte beschlossen, die Musiker, einen Stehgeiger und einen Akkordeonisten, schlechter zu bezahlen als zuvor. Daraufhin stellten sich die Musiker wie gewohnt auf, spielten jedoch keinen Ton, woraufhin die Films stumm abliefen. Die Zuschauer pfiffen und drohten dem Vorführer, er solle endlich die Musiker spielen lassen. Ihre Wut steigerte sich bedrohlich, besonders derjenigen auf den billigen Plätzen hinter der Leinwand, die ohnehin die Films nur spiegelverkehrt sahen. Fast hätten sie den Saal demoliert. Die Musiker erkannten die Not des Operateurs. Sie handelten eine höhere Gage als zuvor aus und begannen schließlich zu spielen. Der Geiger war ein begnadeter Musiker. Die Töne schwebten im Raum, warm und daunenweich, dann wieder kraftvoll und energisch. Er holte die Musik nicht aus den Fingern, sondern aus seiner Seele. Er spielte mir Glückstränen in die Augen.
    Merke dir, Theo: Wo die Worte versagen, dort ist das Reich des Films! Hilf den Zuschauern, mit deinen Erklärungen zu träumen, aber bestimme nicht ihre Gedanken. Lass sie schweben in ihrem eigenen Reich.«
    Simon hustete. Dann sah er Theo eindringlich an.
    Â»Theo, mein Junge, willst du mit mir ziehen und mir helfen? Ich bin alt und krank, ich brauche jemanden wie dich.«

    Theo rannte nach Hause, stürmte durch den Torbogen zum Hinterhof, hinein in den schummrigen Flur der Mietskaserne,
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