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Palast der Schatten - historischer Kriminalroman

Palast der Schatten - historischer Kriminalroman

Titel: Palast der Schatten - historischer Kriminalroman
Autoren: Gmeiner-Verlag
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raus.
    Nach der Schicht tappte er, von seinem Teigmantel niedergedrückt, aus dem Fabriktor. Auch im Kopf klebte die schwere Masse. Sie ließ die Welt, ohne dass er einer Empfindung fähig war, an ihm vorüberziehen.
    Eines Abends aß er auf dem Heimweg wie gewohnt von den gestohlenen Keksen, die in den Löchern des Jackenfutters steckten. Er stopfte die Kekse stumpf in sich hinein. Die Krümel vermischten sich zu Brei. Kekse. Krümel. Brei. Schlucken. Als er von innen und außen nur noch aus Krümelmasse bestand und ihm übel wurde, wusste er plötzlich, dass er nie mehr in die Fabrik zurückkehren würde.
    Er trieb sich auf dem Jahrmarkt herum. Umnebelt vom Duft heißer Würstchen und Waffeln, das Kreischen und Lachen der Menschen in den Ohren, schlenderte er umher und bestaunte die Karussells und Krinolinen, die Schießhallen und Abnormitätentheater. Er bog vom Hauptweg ab, schritt auf einen Bretterverschlag mit dem Schild ›Palast der Schatten, Lebende Bilder‹ zu. Ein alter Mann saß in der Kabine und verkaufte Eintrittskarten. Theo legte ihm vier Groschen in die Hand, betrat den kleinen, schmutzigen Saal und setzte sich auf eine der Holzbänke vor ein Gestell, an dem ein weißes Laken befestigt war, auf das der Lichtkegel des Projektors fiel. Ein ratterndes Geräusch ertönte. Harmoniumklänge folgten. Geisterhaft zuckende Bilder erschienen auf dem weißen Viereck. ›Der Kettensprenger‹, es folgten ›Die Schlangendompteuse‹ und viele andere kurze Stücke. Die Bilder flimmerten über die Leinwand, als wären sie von einer flackernden Kerze beleuchtet. Er spürte nicht, wie die Minuten vergingen. Das Weiß blitzte. Das Schwarz huschte. Das Licht streute sich. Die hastigen Bilder hüllten ihn ein. Verzückt verfolgte er die vorüberpreschenden Schatten, die sich geistergleich in aufsteigendem Rauch bewegten. Sein verzaubertes Herz pochte. Er selbst sprengte Ketten und bezähmte Schlangen. Er saß auf Elefanten und löschte die Feuersbrunst. Er lebte im Traum, einem Traum, der leicht und frei wie ein Luftballon in den Himmel schwebte.
    Seither kam er jeden Tag zur Bude und half Simon. Er machte sauber, riss Karten ab, bediente die Lüftungsklappe. Simon Rosenthal nickte ihm jedes Mal freundlich zu. Simon spürte, dass er, Theo, nicht mehr als Teig-Theo leben wollte.
    Mehrmals am Tag besuchte er die Vorführung. Er kannte alle Nummern: ›Der letzte Angriff auf einen Hügel‹, ›Zahlungsunfähige Gäste‹, ›Fuchs und Kaninchen‹, ›Spanisches Ballett‹, ›Töchter des Teufels‹, ›Petersplatz in Rom‹, ›Der kleine Apfeldieb‹, ›Der Sardinenfang‹ …
    Er konnte die Szenen auswendig und wusste, ob das Harmonium traurige oder fröhliche Klänge spielen würde. An einem Morgen sagte Simon zu ihm:
    Â»Heute erzählst du, Theo, willst du? Ich habe Husten.«

    Theo stellte sich neben die Leinwand, den Zeigestab in der rechten Hand haltend. Seine Stimme schallte durch den Raum.
    Â»Diese kostbare Lampe musst du bis zehn Uhr zur Bankiersfrau bringen. Du musst unbedingt pünktlich sein. Es ist sehr wichtig. Aber pass auf, sie ist sehr zerbrechlich.
    Oh, seht, der Bote fällt die Treppe herunter. Gott sei Dank, die Lampe bleibt heil. Er kämpft sich durch den Straßenverkehr. Die Lampeee! Uuii! Noch mal gut gegangen. Da, ein Teich. Was tun? Er watet hinein, schwimmt, die Lampe hält er über Wasser. Schwimmt und schwimmt. Er schafft es! Doch da, am Parkausgang, eine Meute von Hunden, zähnefletschende Bestien. Kläffen, springen, schnappen nach ihm. Jetzt beißen sie zu … Glück gehabt.
    Er rennt die Straße entlang, blickt zur Kirchturmuhr. Neiiiin. Die Straßenwalze. Sie reißt ihn zu Boden, walzt ihn platt wie einen Pfannkuchen. Doch sein rechter Arm und die Lampe bleiben heil. Was nun, was nun? Ein Pfannkuchen kann nicht laufen. Ein Radfahrer springt ab, greift zur Pumpe, bläst den Boten auf. Weiter, weiter. Eine Minute vor zehn. Rast die Treppe hinauf, stolpert. Die Lampeee, sie fällt. Nein, er kann sie gerade noch auffangen. Die Tür springt auf, er überreicht die Lampe – oh neiiin! Er lässt sie faaallen. Ohhhhh …«
    Die Worte sprudelten aus ihm heraus. Ihm war, als hätte er alle Wörter, die er kannte, für diesen Moment aufbewahrt. Sie formten sich von
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