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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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Schöpfungen nachgedacht: den Schlossgarten und die Wesen, die ihn bevölkern. Verschwindet aus der wirklichen Welt ein Begriff, kann daraus ein Wortklauber für dein Phantasiereich entstehen. Was würde aber geschehen, wenn so ein entführtes Wort wieder zu den Menschen zurückkehrt? Müsste sich dann nicht der Nachtschwärmer in Luft auflösen? Genauso wird es sich mit dem Meister-Sonett verhalten. Ich bin ein Naturtalent im Auswendiglernen von Versen, Urgroßvater. Deine vierzehn Gedichte sind in mein Gedächtnis eingebrannt und damit auch der Wortlaut des Meister-Sonetts. Durch mich – dein eigen Fleisch und Blut, wie du betont hast – wirst du Unsterblichkeit erlangen, weil die Schönheit der Gewogenen Worte im Herzen der Menschen weiterlebt und damit auch du. Sie dürfen nicht länger Gefangene deines Wahns bleiben…«
    »Verrat!«, schrie Zitto dazwischen.
    Pala ließ sich davon nicht beirren, sondern sprach mit fester Stimme weiter. »Hör auf, dich zu quälen, Urgroßvater Romeo! Du sehnst dich nach Erlösung, wie du selbst zugegeben hast, und du kannst sie finden. Bringe den Menschen das Juwel deiner vollkommensten Dichtung zu Gehör und aller Schmerz wird von dir weichen. Wenn du dich weigerst, dann werde ich es tun.«
    Zitto lachte freudlos. Der Wahnsinn funkelte in seinen Augen. »Sie hat da eine Kleinigkeit außer Acht gelassen. Die Macht der Worte ist vorderhand ein erdrückend kompliziertes Regelwerk und erst nachher ein kostbarer Wissensquell. Eine der Vorschriften lautet, nur der rechtmäßige Eigentümer eines gebannten Wortes könne es für die Menschen zurückgewinnen, indem er es laut ausspricht. Die Erbin und gesetzmäßige Eigentümerin des Meister-Sonetts ist Sie selbst, Pala.« Ein irres Kichern quoll aus dem Mund des Alten und steigerte sich schnell zu gehässigem Lachen. »Leider hockt Sie da oben in dem Käfig und darbt. Alles Hersagen des Gedichts nützt Ihr nichts, solange Sie in den Grenzen meines Reiches gefangen ist. Haha! Es ist vorbei, kleines Mädchen. Sie hat verloren.«
    Sprach’s und stob mit wallendem Mantel davon.
    Pala rüttelte zornig an den Käfigstreben und noch ehe der letzte Zipfel von Zittos Gewand aus dem Saal entschwunden war, rief sie ihm hinterher: »Das werden wir ja sehen, Urgroßvater Romeo! Denke an deine eigenen Worte: Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer.«

 
     
     
Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer,
allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern.
Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern,
die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer.
 
Sind Wonnen süß, ist kurz meist ihre Dauer,
sogar von  Gift lässt sich der Tor erheitern.
Ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern.
Den Tod erfreut’s, der still liegt auf der Lauer.
 
Die Offenheit lässt den Verschwörer weichen.
Das Netz von Ichsucht, Stolz und Neid zu kappen,
gelingt nur den an Wahrheitsworten Reichen.
 
Der Irrtum steht auf Zweifels morschem Wappen.
Die Klugen selbst in Not seh’n Hoffnungszeichen,
besiegen mutig feige Jammerlappen.

 
    Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer… « Pausenlos wiederholte Pala die Anfangsworte ihres Geburtsgedichts. Eben hatte der Uhrenturm zum letzten Mal vor Mitternacht geschlagen. Von unten tönte das Geschrei der Wortklauber herauf – der Lautstärke nach waren sie nun vollzählig im Burghof versammelt. Mit einer Ausnahme. Aber was war mit Tozzo geschehen?
    »Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer. Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer …«
    Bis auf eine Hand voll Kerzen waren alle anderen erloschen. Am Kopfende der Tafel saß Zitto neben einer kleinen Öllampe und starrte gefesselt auf sein Meister-Sonett. Vor wenigen Minuten war er zurückgekehrt, wohl um hier, in Palas Gegenwart, seinen endgültigen Sieg auszukosten. Die beiden Jambenposten standen einander gegenüber an den Wänden und wirkten wie ihre eigenen ausgetrockneten Panzer. Palas Gebrabbel schien weder sie noch den Alten zu stören.
    »He, ihr dort!«, rief sie zu den Wachen hinab und schaukelte herausfordernd mit dem Käfig. »Wie fühlt man sich, wenn einem das letzte Stündlein geschlagen hat? Ich werde Zittos Bann nämlich brechen. Und sollte mir das wider Erwarten misslingen, dann wird Seine Hoheit euch höchstselbst zum Schweigen bringen – hat er mir beim Abendessen verraten.«
    »Sie sollte besser Ihre freche Gosche halten, sonst lassen Wir sie Ihr stopfen«, drohte Zitto von unten, ohne
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