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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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stand dort unten nur noch Romeo, ihr Vorfahr, ein bedauernswerter alter Mann, der einem großen Irrtum erlegen war.
    »Dir ist es nie wirklich darum gegangen, den Menschen dein größtes Werk zu schenken, Urgroßvater, sonst hättest du es nicht so listenreich verborgen. Mit deinen Gewogenen Worten wolltest du nur den Ruhm zurückgewinnen, der dir von deinem Schüler streitig gemacht worden ist. Darüber hast du eines ganz vergessen: Jeder Mensch wiegt Worte anders. Jenen höchsten Rang, um den es dir geht, kannst du im Militär erwerben, unter den Adelshäusern oder meinetwegen auch durch die Huldigungen der Menschen, aber niemals in der Kunst – selbst wenn es manchmal den Anschein hat. So wohlgesetzt jemandes Worte auch sein mögen, werden sie doch immer Freunde und Gegner finden, und das ist gut so, weil jede Art von Kunst die Empfindungen der Menschen anspricht und solche Gefühle sind nicht zählbar, nicht gegeneinander aufwiegbar. Hat etwa der eine Unrecht, der das Werk deines Schülers lobt, und der andere Recht, nur weil er das deinige für das schönste hält?«
    Zitto war wie benommen von Palas kraftvollen Worten. Seine Erwiderung klang gequält, fast kleinlaut. »Willst du, mein eigen Fleisch und Blut, etwa die Vortrefflichkeit meiner Gewogenen Worte anzweifeln?«
    »Nein, Urgroßvater. Sie sind, wie ich finde, eine wahre Königin. Dein ganzes Herz liegt darin. Zusammen mit dem Meister-Sonett hätten sie dir einen Platz unter den größten Dichterfürsten sichern können. Doch du selbst sagtest, ihr Zauber würde unweigerlich verblassen, sobald man auch nur eine Silbe, ja, einen einzigen Buchstaben zu verändern suchte. Damit hast du dich verraten. Wie sollte Silencia ihre vollkommene Schönheit erkennen, wenn du sie in vierzehn Teile zerhackst und damit das Meister-Sonett vor den Menschen verbirgst? Anstatt durch deine Gewogenen Worte Unsterblichkeit zu erlangen, versuchst du dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Du hast dein größtes Werk in diesen Mauern zu deinem Gefangenen gemacht, genau wie all die anderen von dir zusammengeklaubten Schätze.«
    »Das stimmt nicht. Sie selbst besitzt das erste Unserer vierzehn Sonette, alle übrigen befinden sich schon seit Generationen unter den Menschen. Die Macht der Worte… «
    »Ja, dieses ›verzwickte Regelwerk‹ hast du eingehalten, aber das ist auch schon alles. Um das Geheimnis deines Meister-Sonetts zu hüten, war dir jedes Mittel recht. Wer in Silencia mit Worten umzugehen wusste, den hast du mit Sprachschwund geschlagen oder ihn mit dem Geplapper deiner Papageien abgestumpft. Die Kunst des Dichtens und Geschichtenerzählens ist von dir fast ausgerottet worden. Niemand sollte dem ›großen Romeo, der neue Worte redet‹, je wieder das Wasser reichen können.«
    »Einen scharfen Verstand hat Sie, kein Wunder, denn Sie ist eine Oratore. Doch Ihre Einsichten kommen etwas zu spät.«
    »Sei dir da nicht zu sicher, Urgroßvater Romeo. Du hast selbst behauptet, die Menschen hätten die Summe deines prächtigen Werkes nicht sehen können. Weil mein wirklicher Vater, Gaspares Erstgeborener, sein Erbe ausgeschlagen habe, sei dieses mir – also der fünfzehnten Generation – zugefallen. Beim Nachsinnen über deine Worte hat es plötzlich bei mir geklingelt. Wie das Blut all meiner Vorfahren in mir zusammenfließt, so müssen sich auch in dem fünfzehnten, dem Meister-Sonett, die Gedanken aller vorhergehenden vereinen, dachte ich mir. Du selbst hast mir die letzten Mosaiksteinchen geliefert, um das fertige Bild zu erkennen: Keiner der vorhergehenden Generationen konnte alle vierzehn Zeilen des Meister-Sonetts zusammensetzen, weil dieses nämlich aus den End- und Anfangszeilen der einzelnen Gedichte besteht. So hat es den Weg zu den Menschen gefunden, ohne selbst je von ihnen gelesen oder gehört worden zu sein.«
    Zitto war zu einer Salzsäule erstarrt oder er machte zumindest den Eindruck. Bewegungslos, mit weit geöffnetem Mund stand er unter dem Käfig, den Kopf im Nacken zurückgelehnt, und glotzte zu Pala hinauf. Sie konnte allein seiner Körpersprache entnehmen, wie richtig sie mit ihren Schlussfolgerungen lag. Weil ihm offenbar keine Erwiderung einfallen wollte, lüftete Pala nun auch das, wie sie meinte, letzte Geheimnis.
    »Deine ganze Macht, Urgroßvater Romeo, liegt somit im Meister-Sonett, das du fast nie aus der Hand legst und in dem du immerfort liest. Du hast dein Herz verkauft, um es zu erschaffen. Ich habe lange über die Natur deiner anderen
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