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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany
Autoren: John Irving
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nahm – und fast jedesmal danebentraf.
    Dennoch liebte Owen seine Sammelkarten, und aus irgendwelchen
Gründen liebte er auch das Spiel selbst, obwohl es für ihn ein grausames Spiel
war. Die Werfer aus der gegnerischen Mannschaft drohten ihm. Sie sagten, wenn
er nicht schlagen würde, würden sie mit dem Ball auf ihn zielen. »Dein Kopf ist
schließlich größer als die Schlagzone, Kleiner«, sagte ein Werfer einmal. Und
so bekam Owen manchmal ein paar Bälle ab, ehe er zur ersten Base gelangte.
    Wenn er die erste Base einmal erreicht hatte, war er unschlagbar.
Niemand konnte so schnell rennen wie Owen. Wenn unsere Mannschaft lange genug
mit Schlagen dran war, schaffte er die [16]  Runde
immer. Er lief auch dann los, wenn es für die anderen zu gefährlich war. So
machten wir Punkte, wenn er am Schlagmal war und wenn er lief; »Punkteklau
Meany«, so nannten wir ihn. Als Feldspieler war er eine Katastrophe. Er hatte
Angst vor dem Ball; er kniff die Augen zu, sobald der auch nur in seine Nähe
kam. Und wenn er es wirklich einmal schaffte, ihn zu fangen, dann konnte er ihn
nicht zurückwerfen; seine Hand war zu klein, und er bekam ihn nicht richtig zu
fassen. Doch er quengelte nicht wie andere Kinder; wenn er sich beschwerte, war
seine Stimme so einzigartig, daß selbst sein Jammern liebenswert war.
    In der Sonntagsschule, wenn wir Owen in der Luft festhielten – vor
allem dann! – protestierte er auf diese einzigartige Weise. Ich glaube, wir
quälten ihn nur, um seine Stimme zu hören; früher dachte ich immer, seine
Stimme käme von einem anderen Stern. Heute bin ich überzeugt, daß seine Stimme
wirklich nicht ganz von dieser Welt war.
    »LASST MICH RUNTER !« quäkte er in seinem erstickten,
gepreßten Falsetto. » HÖRT ENDLICH AUF! ICH HAB KEINE LUST MEHR. GENUG IST GENUG. LASST
MICH RUNTER! IHR ARSCHLÖCHER!«
    Doch wir reichten ihn weiter hin und her. Und nach und nach fügte er
sich in sein Schicksal. Sein Körper war steif; er wehrte sich nicht. Wenn wir
ihn droben in der Luft hatten, verschränkte er trotzig die Arme und starrte
finster an die Decke. Manchmal hielt er sich, sobald Mrs.   Walker den Raum
verließ, an seinem Stuhl fest; er klammerte sich daran wie ein Vogel im Käfig
an seine Schaukel, doch man brachte ihn leicht davon los, denn er war kitzlig.
Ein Mädchen namens Sukey Swift war ganz besonders geschickt, wenn es darum
ging, Owen zu kitzeln; sofort streckte er Arme und Beine von sich, und wir
hatten ihn wieder oben.
    »NICHT KITZELN !« mahnte er immer, doch
wir spielten das Spiel nach unseren Regeln. Wir
hörten nie auf ihn.
    Und wenn Mrs.   Walker wieder hereinkam, hing Owen natürlich immer in
der Luft. Angesichts der ernsten Anweisung, die sie [17]  uns
gegeben hatte:» feste nachdenken…«, mochte sie denken, daß wir es aufgrund einer Gewaltanstrengung an
festem Nachdenken geschafft hatten, Owen Meany in der Luft schweben zu lassen.
Vielleicht vermutete sie sogar, daß Owen sich als Folge ihrer Entscheidung, uns
mit unseren Gedanken allein zu lassen, himmelwärts richtete.
    Doch die Reaktion von Mrs.   Walker war jedesmal gleich – unfreundlich, phantasielos und ungeheuer blöde. »Owen!« blökte sie. »Owen
Meany, du gehst auf der Stelle auf deinen Platz! Du kommst sofort da runter !«
    Was konnte uns Mrs.   Walker über die Bibel lehren, wenn sie so dumm
war, anzunehmen, Owen Meany hätte sich selbst in die Luft verfrachtet?
    Owen verhielt sich immer sehr würdevoll. Niemals sagte er: »DIE ANDEREN WAREN ES! DAS
MACHEN SIE IMMER ! SIE HEBEN
MICH HOCH UND VERSTREUEN MEIN GELD UND BRINGEN MEINE SAMMELKARTEN DURCHEINANDER – UND NIE LASSEN SIE
MICH RUNTER, WENN ICH ES IHNEN SAGE! WAS GLAUBEN SIE DENN: DASS ICH HIERHIN GEFLOGEN BIN?!«
    Doch obgleich Owen sich bei uns beschwerte, beschwerte er sich nie
über uns. So wie er es gelegentlich fertigbrachte, noch in der Luft seinen
stoischen Gleichmut zu bewahren, war er immer stoisch gleichmütig, wenn ihm
Mrs.   Walker vorwarf, er benehme sich kindisch. Er petzte nie. Ebenso deutlich
wie jede beliebige Geschichte in der Bibel zeigte uns Owen Meany, was ein
Märtyrer war.
    Offensichtlich war er auch nicht nachtragend. Obwohl wir unsere
ausgeklügeltsten Attacken auf ihn für die Sonntagsschule aufbewahrten, hoben
wir ihn auch bei anderen Gelegenheiten hoch – jedoch spontaner. Einmal hängte
ihn jemand am Kragen an einem der Kleiderhaken in der Aula der Grundschule auf;
nicht einmal dort setzte sich Owen zur Wehr. Er baumelte
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